Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Mutter Anna war von Kindheit an eine unglaublich begeisterte Leserin. Sie war belesen, wie ich es später beurteilen konnte. Und das Lesen zog sie zur Weiterbildung.
  2. Für ein Mädchen aus einer traditionellen karäischen Familie… Auch bei den Juden wie bei den Karäern gibt es feste Traditionen, bezogen auf die Lebensweise, Bekanntschaften und sogar Hygiene. Heute würden wir das als Routine und als unangenehm bezeichnen.
  3. Und sie protestierte damals dagegen oder so, sie konnte das nicht hinnehmen. Ihre Mutter und Tante waren sehr religiös und hielten alles genau ein. Und sie absolvierte das Gymnasium.
  4. Da waren zunächst so viele Karäer, dass es eine karäische Grundschule gab. Sie schloss sie ab und danach das Gymnasium. Sie unternahm dann einen für damals unglaublichen Schritt, sie wurde in den höchsten medizinischen Kursen aufgenommen, auch 1913 wie mein Vater.
  5. Und in der Zeit lernte sie durch eine bekannte Kommilitonin den Vater kennen. Das war bereits 1913. Sie studierte jedoch in Odessa und er in Kiew. Nach seiner Rückkehr nach Odessa trafen sie sich während des Krieges weiter.
  6. Heiraten konnten sie aber noch nicht, denn es war Bürgerkrieg, Odessa wechselte die Besitzer. Es gab verschiedene Besatzungen, dann kam es zur Revolution. In Odessa herrschte Chaos, das etwa bis 1922 dauerte. Es nahm einfach kein Ende: ukrainische Nationalisten, deutsche und französische Truppen und diverse Banden.
  7. Also, das Leben war hart, schrill und ungewiss. In der Zeit kehrte Mamas ältester Bruder zurück, der sein Studium bereits in Petrograd abgeschlossen hatte. Er und Vater freundeten sich sehr an und arbeiteten bei verschiedenen Firmen zusammen. Mein Vater hatte zwar noch keinen Hochschulabschluss, aber sie arbeiteten beide als Ingenieure.
  8. Und meine Eltern beschlossen zu heiraten, wobei beide Familien dagegen waren. Denn Vaters Familie war russisch und orthodox und sah, da war irgendeine seltsame Nationalität und dazu mit jüdischem Glauben.
  9. Sie missachteten aber all die Verbote und heirateten. Dabei waren sie eine der ersten in Odessa, die… Sie konnten ihre Ehe weder in der Kirche noch in der Kenessa – so heißt das karäische Gotteshaus – schließen.
  10. Sie taten es beim Stadtrat oder so, d.h. das war eine Zivilehe. Und dann mussten sie sich ein neues Leben aufbauen. Das Wichtigste in dieser Zeit war die Unterkunft. Schließlich bekamen sie eine Wohnung, das war allerdings eine Gemeinschaftswohnung.
  11. Da sie aber eine Dienstwohnung war, war sie sehr groß. Da wohnte noch die Familie eines Medizin-Professors. Meine Mutter arbeitete in einem Krankenhaus bei der Eisenbahn und Vater im Ausbesserungswerk. Der Professor war Stationsleiter im Krankenhaus, wo auch meine Mutter arbeitete.