Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Bei Kriegsbeginn lebte keiner von den Großeltern mehr. Mutters Mutter starb 1923. Und Vaters Eltern: Der Großvater starb 1929 und Großmutter 1939. Ich hatte (als Kind) wohl ein gutes Gedächtnis.
  2. Ich war etwa drei, als die Großmutter starb. Ich habe eine ungefähre Erinnerung an sie, an ihre Silhouette. Das kommt nicht aus den Erzählungen der Erwachsenen, ich habe sie eben in Erinnerung.
  3. Also, bei Kriegsbeginn war der Vater bereits im nicht wehrpflichtigen Alter, 52 Jahre alt. Der älteste Onkel Jakow war noch älter als der Vater, genauso wie noch ein Onkel.
  4. Und der dritte Bruder von Mama war noch im wehrpflichtigen Alter, 47 oder 48 Jahre alt. Ich kann mich an den Tag erinnern, als der Krieg ausbrach. An diesem Abend sollte die Schulfeier meines Bruders stattfinden, der die achte Klasse abgeschlossen hatte.
  5. Er hatte die Prüfungen bestanden, deswegen die Schulfeier. Und ich wurde an diesem Tag viereinhalb Jahre alt, ich war noch in dem Alter, wo man an jedes Halbjahr denkt. Wir besuchten unsere Nachbarin, die eine spezielle Torte backen konnte.
  6. Mama war mit ihr befreundet, sie wohnte eine Etage höher. Das war auch in einer Gemeinschaftswohnung, und ihre Nachbarin sagte plötzlich: „Kommen Sie schnell, im Radio soll eine wichtige Bekanntmachung kommen.“
  7. ie zogen mich mit, und wir kamen zu der Nachbarin. Ich weiß noch: Es war ein Vorkriegs-Radioempfänger auf einem Tischchen mit einem Tischdeckchen. Der Empfänger war hoch, und ich weiß noch, wir schauten ihn an, der Lautsprecher war mit Seide umspannt.
  8. Das habe ich in Erinnerung, wie wir da sitzen. Ich konnte nichts weiter verstehen, sah aber, dass die Frauen zu weinen begannen. So begann für mich dieser Tag. Gleich an diesem Abend kamen Mamas Brüder zu uns. Der dritte sagte natürlich, dass er an die Front geht.
  9. Er war von Beruf her Feldscher, ein erfahrener. Und er wurde in der Tat schnell mobilisiert. Und der Vater, da er im nicht wehrpflichtigen Alter war, wurde beauftragt, die Seefahrts-Hochschule aufzulösen und auf die Evakuierung vorzubereiten.Die Studenten wurden teilweise einberufen, und die älteren Semester – damit die Fachleute nicht verschwinden – wurden vom Militärdienst freigestellt und sollten fortgehen.
  10. Als die Luftangriffe begannen, war es natürlich… Wir wohnten zudem im Stadtzentrum und auf unsere Viertel fielen viele Bomben. Da waren keine Betriebe, (es war) eine Wohngegend im Zentrum. Später begriffen wir, warum es so gewesen war: Zwei Blocks weiter befand sich der Stab des Militärbezirks, die Verteidigung von Odessa.
  11. Das macht klar, warum diese Gegend so bombardiert wurde. Zunächst gingen wir, wie alle, in den Keller hinunter, ich weiß aber immer noch ganz genau: Ich, ein ganz gesundes Kind, bekam im Keller keine Luft mehr. Das hatte wohl mit den Nerven zu tun, ich bekam keine Luft.
  12. An einem späten Abend gingen wir mal in die Katakomben, und mir passierte es wieder, ich konnte nicht… Übrigens: Ich kann bis heute vielleicht deswegen keine Höhlen ausstehen. Ich war natürlich drin, im Kaukasus, auf Mallorca usw. Ich mag das aber nicht, das macht mir keinen Spaß.
  13. Unsere Wohnung befand sich in einem Eckhaus, unsere Wohnung lag an der Ecke. Auf einer Seite waren unsere Zimmer und auf der anderen wohnten die Nachbarn. Dazwischen lag eine große Halle, wohl mindestens 30 Quadratmeter. Wenn ein Luftangriff begann, versammelten sich alle in diesem Vorraum und saßen da. Splitter konnten uns nicht treffen, wir waren drinnen.
  14. Und was uns noch hätte passieren können, das ist ein anderes Thema. Einmal saßen wir da und eine Bombe schlug direkt vor unseren Fenstern ein. Die Fenster flogen weg, ist klar. Und die Zimmertür stürzte ein, die Druckwelle fegte sie in den Vorraum und sie fiel da um. Glücklicherweise wurde niemand von uns und den Nachbarn getroffen. Und da sagte der Vater: „Es reicht! Ihr könnt hier nicht bleiben.“