Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich möchte über den Antisemitismus in der Ukraine erzählen. Meine Schwester, die in der Region Krasnodar geboren wurde, ist besonders begabt. Sie lebt jetzt in Israel. Sie lernte sehr gut und machte den Schulabschluss mit Auszeichnung. Das alles als Beispiel.
  2. Sie war sehr begabt und alle sagten, sie würde eine gute Ärztin werden. Sie versuchte drei Mal, die Aufnahmeprüfungen an der medizinische Hochschule zu bestehen. Die Noten waren zwar gut, sie wurde trotzdem nicht zugelassen. Jedes Mal fand sich irgendein Grund, sie wurde auf der Liste zurückgestellt.
  3. Wenn sie zur Aufnahmeprüfung an eine andere Hochschule ging, wurden ihr zahllose Fragen gestellt. Sie erzählte: „Vor mir war jemand dran, ich kannte das Material.“ Aber wenn sie dran kam… Da stand ihr Name: Inna Abramowna Viknyanska. Ihr wurden dann dermaßen (schwere) Fragen gestellt und sie konnte sie sogar beantworten.
  4. Eine Frau wollte sogar wissen, wo sie sich vorbereitet hat. Sie las zusätzliche Lehrbücher, früher war es ja nicht üblich, Nachhilfestunden zu nehmen. Trotzdem bekam sie eine Drei und wurde nicht zum Studium zugelassen.
  5. Dann beschloss sie, Chemie in Dnepropetrowsk zu studieren, sie wollte wenigstens Biologin oder Mikrobiologin werden. Sie wurde da auch nicht zugelassen.
  6. Da noch viele Plätze für das Physik-Fernstudium frei waren, bot man dem Mädchen an, Mathe- und Physikprüfungen zu machen. Sie machte sie ohne Vorbereitung, und die Lehrkräfte waren sogar verblüfft: Wie schafft sie das bloß?
  7. An der Uni in Dnepropetrowsk wurden die Juden aufgenommen. Denn es war erwünscht, dass begabte Kinder an der Uni studieren. Der Uni-Rektor hieß Professor Masssakowskij. Die medizinische Hochschule nahm keine Juden auf.
  8. Man erzählt, es kam zum Gespräch zwischen dem Uni-Rektor und der Rektorin der medizinischen Hochschule. Sie sagte: „An meiner Hochschule wird es keine Juden geben.“ Er sagte: „Solange ich Rektor bin, gibt es an meiner Hochschule keinen Antisemitismus.“
  9. Das war eine schreckliche Zeit, das war 1952. Ich ging in die 8. Klasse. Es war so: Das Wort Jude gab es nicht. Aber alle wussten Bescheid und spürten es auf der Haut. Ich weiß noch: Wir kamen mal in die Schule, und die ukrainischen Mädchen flüsterten sich etwas zu, etwas lag in der Luft.
  10. Mir war alles klar: Sie hatten das zu Hause gehört, manche freuten sich sogar darauf. Die anderen wussten Bescheid, sagten aber kein Wort. Die klugen Menschen verstanden, was los war. Die Benachteiligten und Neider, so sehe ich sie, grinsten: „Das geschieht euch ganz recht!“ Der Antisemitismus tobte sich aus, die Ärzte wurden überall entlassen.
  11. Wenn der Chef einer medizinischen Einrichtung ein kluger Mensch war, sagte er: „Kündige selbst, ich will dich nicht entlassen. Ich weiß, du bist ein guter Mitarbeiter. Ich kann nichts tun.“
  12. Der Antisemitismus tobte sich aus. Es war unmöglich, man spürte das regelrecht auf der Haut. Ich persönlich sah allerdings irgendwie nicht jüdisch aus, mein Vater war so. Ich ging auf der Straße und hörte junge Leute sprechen: „Da geht ein Jude!“
  13. Wissen Sie, sie sahen, da ist ein Jude. Meine Schwestern waren dunkel, sie wurden dauernd gehänselt: „Shidowka!“ Auch meine Tochter ist dunkel, meinem Mann ähnlich. Sie wurde in der Schule dauernd gehänselt. Sie war sehr aufgewühlt, ich musste mit den Lehrern sprechen. Das kam ja aus der Familie.
  14. Der Antisemitismus war nicht nur alltäglich, er wurde auch von oben aufgedrückt. In der Ukraine gab es ihn seit Urzeiten. Immer wieder gab es Pogrome, Gonta und Chmelnizkij. Das alles fruchtete natürlich.
  15. Es war einfach unmöglich, in der Ukraine zu leben. Ich möchte darauf hinaus: Wenn du eine Arbeitsstelle bekommst, musst du sehr gut arbeiten. Oder studieren. Du musst der beste sein, dann darfst du weiterarbeiten.
  16. Vielleicht sagt man deswegen, die Juden gäben sich viel Mühe, um ihre Stelle zu behalten. Wichtige Posten bekamen sie trotzdem nicht. Als ich studieren wollte, wurde ich auch nicht zugelassen.
  17. Ich habe die Aufnahmeprüfungen sehr gut bestanden. Die Matheprüferin fragte sogar, auf welcher Schule ich war und wer mein Lehrer war. Sie war ein guter Mensch, ich habe eine Eins bekommen. Auch in den anderen Fächern hatte ich nur Zweien und Einser. Ich konnte jedoch meinen Namen auf der Liste nicht finden, ich war zunächst nicht zugelassen.
  18. Ich will noch sagen: Meine Tante… In unserer Familie gab es viele Lehrer. Mein Großvater war Jiddisch-Lehrer, zwei Tanten waren Russisch-Lehrerinnen, ein Onkel unterrichtete Geographie. Also, eine Tante war Russisch-Lehrerin, sie war eine stattliche und energische Frau.
  19. Sie sagte: „Yeva, wir gehen zum Rektor.“ Ich sagte: „Ich bin nicht zum Studium zugelassen.“ Dann gingen wir hin. Ich erinnere mich immer noch an das Gespräch. Sie war stattlich, groß und sehr imposant, sie sagte: „Das ist meine Nichte, hier sind ihre Noten.“ Er sagt: „Ja, ich sehe.“ – „Warum ist sie nicht zugelassen?“ – „Sie hat den Wettbewerb nicht bestanden.“ – „Und wie ist die entsprechende Durchschnittsnote?“
  20. Wissen Sie, er war kein schlechter Mensch, das hing nicht von ihm ab. Mein Name ist Yeva Abramowna und Schluss, ich wurde nicht zugelassen. Ich persönlich wurde nicht beschimpft, ich bin äußerlich… Aber wenn es um Studium oder Arbeit ging… Ich konnte auch schwer eine Arbeit finden.
  21. Der Rektor sagte dann: „Wissen Sie, ich kann ihr nur erlauben, den Unterricht zu besuchen. Wenn sie gut ist und jemand weggeht…“ Es kam auch so: Ich besuchte ein ganzes Jahr den Unterricht und bestand die Prüfungen gut. Ein Student wurde dann in die Armee eingezogen, und ich bekam einen Studienplatz.
  22. Nach dem Studium konnte ich keine Arbeit finden. Mir wurde eine Stelle in einem Dorf zugewiesen. Ich kam dorthin, es gab aber keine Stelle für mich. Einerseits war ich froh darüber. Ich kam zurück und sagte: „Da ist keine Stelle für mich.“ Sie sagten: „Wir weisen Ihnen eine andere Stelle zu.“
  23. Ich fuhr dahin, die Schule da musste noch gebaut werden. Ich fuhr natürlich freudig zurück. Ich suchte dann vergebens Arbeit in Kriwoj Rog. Nur zufällig fand ich eine Stelle als Pionierleiterin. Ich war aktiv, machte die Arbeit und danach begann ich als Mathelehrerin zu arbeiten.
  24. Sicher, ich arbeitete an der Schule. Mein Mann arbeitete als Bauingenieur. Er hatte auch seine (Schwierigkeiten). Er bekam keine Beförderungen nach dem Studium. Sein Vater kam während des Krieges um. Seine Mutter zog ihn groß, sie waren arm.
  25. Er ging sehr früh arbeiten und machte ein Fernstudium am Technikum, sechs Jahre. Nach dem Technikum machte er ein Fernstudium an einer Hochschule und arbeitete die ganze Zeit. Er begann als einfacher Arbeiter, wurde dann Vorarbeiter usw.
  26. Nach dem Hochschulabschluss wurde er nicht befördert, er blieb Vorarbeiter und Meister. Ich denke, das hatte nur mit seiner jüdischen Herkunft zu tun. Erst später gab es einen neuen Bauabschnitt, da waren Fachkräfte nötig, und er fiel als sehr guter Fachmann mit Diplom auf.
  27. Er wurde Meister, dann Bauleiter und stieg weiter auf, weil er der beste war. Er arbeitete auch nach der Rente. Der Lohn wurde aber nicht mehr gezahlt, er arbeitete umsonst, erhielt kein Geld. Wissen Sie noch, wie es in der Zeit war?
  28. Es gab sogar einen Witz: Ein Fabrikchef sagt dem anderen: „Na, kommen deine (Arbeiter) zur Arbeit?“ – „Ja.“ – „Und zahlst du ihnen Löhne?“ – „Nein.“ – „Dann nimm Geld für den Eintritt.“