Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ungefähr im Juli wurden wir mit einem Güterzug abtransportiert – nicht wir alleine, viele fuhren in die Ukraine zurück. Aus Andishan ging es wieder durch ganz Kasachstan, den Ural, das Wolgagebiet und dann Woronesh. Ich weiß noch, auf der Rückfahrt fuhren wir durch Semiluki.
  2. Ich sah dann den Fluss Don, wo wir als kleine Jungs gebadet hatten. Und schon wieder fuhren wir etwa anderthalb Monate mit Güterzügen in die Ukraine zurück. Die Züge hielten an den Stationen und blieben einen Tag oder länger da stehen, bis sie in den Westen weiterfuhren.
  3. Wenn der Zug hielt, liefen wir wieder zur Dampflok und füllten den Teekessel mit kochendem Wasser. So versuchten wir wenigstens Tee zu trinken. Denn ich weiß nicht, ob wir Brotkarten hatten.
  4. Ich glaube, wir bekamen einige Laibe Brot für die ganze Fahrt – drei oder vier. Und wir überlegten, wie wir das Brot aufteilen sollten, wir machten Zwieback daraus usw. Uns rettete nur eines: Als wir wieder am Aralsee waren, hielt unser Zug dort. Dort gab es Berge von Steinsalz.
  5. Meine Eltern füllten einen Kissenbezug oder einen kleinen Sack mit Salz und das half uns zu überleben. Denn Geld spielte keine Rolle, alles wurde getauscht: Für ein Glas Salz bekam man ein Brot. So ging es die ganze Fahrtzeit bis in die Ukraine.
  6. Ende 1944 kamen wir in Shitomir an. Unser Haus war besetzt, da befand sich die Stadtteilpolizei. Uns wurde ein Zimmer angeboten, wo noch eine Frau wohnte. Wir wohnten im Durchgangszimmer.
  7. Nun begann das Leben nach der vierjährigen Evakuierung. Zwei Tage später haute uns Folgendes um: Deutsche Flugzeuge bombardierten wieder Shitomir. Das war aber das letzte Mal, danach gab es keine Luftangriffe mehr. Wir hörten aber wieder Alarm, wollten uns jedoch nicht verstecken. Wir liefen aus der Wohnung auf den Hof hinaus. Das war Ende 1944.
  8. Wir waren schon froh gestimmt, denn alle Sowinformbüro-Berichte waren positiv: Unsere Truppen hatten die und die Stadt befreit, und noch eine Siedlung usw. Die Truppen rückten in den Westen vor, nach Berlin.
  9. Im Mai war es warm. Und bereits vor dem 9. Mai war bekannt, dass unsere Truppen in Berlin sind. Am 9. Mai wurden das Kriegsende und die Kapitulation Deutschlands bekannt gegeben.
  10. Ich weiß noch ganz genau, wie der Tag war. Alle waren draußen, alle hatten fröhliche Augen, alle sangen und tanzten. Die Soldaten freuten sich, sie waren als Kriegsversehrte heimgekehrt.
  11. Es waren sehr viele, ihnen fehlte ein Arm oder Bein, sie gingen auf Krücken. Manchen fehlten schlicht beide Beine. Es war wirklich wie in einem Lied beschrieben wird: Freude mit Tränen in den Augen.