Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. In dieser Zeit, ab Ende 1944, arbeitete mein Vater als Dachdecker in einem Baubetrieb. Mama war damals noch zu Hause. Sie war furchtbar mager. Ein oder zwei Wochen später bekamen wir Brotkarten und freuten uns: Nun haben wir Brot.
  2. Jeden Tag standen wir Schlange, um die „Ware“ zu bekommen. Die Verkäuferin nahm eine Schere, schnitt die Karten ab und wog Brot für uns ab. Ich glaube, Arbeiter bekamen 350 oder 400 Gramm.
  3. Wie viel die Nichtarbeitenden erhielten, weiß ich nicht, vielleicht 350 oder 300 Gramm. Wir merkten jedoch: Es gibt was zu kauen, in der Magengrube zieht es nicht mehr.
  4. Wohl nach Neujahr ging ich (wieder) zur Schule, ich besuchte damals die fünfte oder sechste Klasse. Während der großen Pause bekamen alle Schüler ein Glas Tee und ein rundes Brötchen. Das war sozusagen eine Hilfe für uns.
  5. Wir gingen zur Schule mit einem Tintenfässchen. Wir brachten sogar eigene Hocker mit in die Schule, denn da gab es keine Sitzplätze. Da waren Tische, keine Schulbänke. Die Stadt war zerstört.
  6. Beim Lernen wurde uns nicht viel abverlangt. Wir waren aber jung und machten die Hausaufgaben gemeinsam. Gespielt haben wir in den Trümmern, wir fanden es spannend. Da konnte man alles Mögliche aus der Kriegszeit finden. Viele wurden zu Krüppeln, weil dort auch Handgranaten lagen. So manch Ahnungslosem wurden die Hände oder Füße abgerissen.
  7. Die Eltern machten sich Sorgen und verboten uns, in den Trümmern herum zu laufen und nach etwas zu suchen. Wir spielten auch wie früher Krieg.
  8. Mit einem Nagel stocherten wir Patronen aus dem Straßenbelag, lösten das Pulver heraus und bastelten damit ganz einfache Pistolen.
  9. An die Schulzeit habe ich noch eine Erinnerung: Wir wickelten eine Konservendose in einen großen Lappen ein. Das war dann unser Fußball und wir jagten ihn durch den Hof. Wir achteten unsere Lehrer sehr.
  10. Der Schuldirektor war Teilnehmer des Vaterländischen Krieges, ihm fehlte ein Bein und er ging mit einer Prothese. Auch die anderen Lehrer waren sehr freundlich zu uns. Sie versuchten zu verstehen, dass wir Kriegskinder sind.
  11. Ich weiß noch, meine Mutter nähte meine Hose zwei Mal um, damit ich sie in der Schule tragen kann. An den Füßen hatte ich so etwas wie Fußballschuhe. Im Winter trug ich eine einfache wattierte Jacke. Das Leben war natürlich nicht leicht. Meiner Mutter gelang es mit großen Schwierigkeiten, eine Putzfrauenstelle in einem Geschäft zu bekommen.
  12. Die Arbeit war überhaupt ein Problem. Sie tat es, um Geld zu verdienen und Brotkarten als arbeitende Person zu beziehen. Die Ration war wohl 400 oder 500 Gramm. So war unser Leben. 1947 war es besonders schwer. Ich glaube, in diesem Jahr gab es eine Missernte, und mit der Ernährung sah es sehr schlecht aus.
  13. Uns Jungs war jede Gelegenheit recht, um das Alltagsleben aufzubessern. Ich lache, wenn ich daran zurückdenke: Ich, mein Freund Dima und Boris… Übrigens, wir fanden mal eine deutsche MP Schmeisser und schossen im Park auf Krähen, bis die Polizei uns erwischte. Sie nahmen uns die MP ab und zogen uns die Ohren lang.
  14. 1947 kaufte ich zwei Kaninchen und ließ sie sich paaren. Das Weibchen bekam vielleicht neun Junge. Im Herbst waren sie schon größer, und es war eine Stütze für uns, etwas Fleisch. Ich besorgte Gras und Laub und fütterte die Kaninchen im Käfig.
  15. 1948 war ich wohl schon in der neunten Klasse. Ich half bereits meinem Vater, er galt in diesen Jahren nicht mehr als jung. Einmal nahm er mich mit und wir strichen gemeinsam die Kuppel einer Kirche. Ich sicherte ihn, hielt eine Leine fest und reichte ihm die Pinsel und Farbe.
  16. Die Kirche hieß damals Michajlowskaja. Um unsere Lage aufzubessern, arbeitete der Vater nach seiner Bauarbeit abends da und strich die Kirche an. Er nahm mich mit dahin und brachte mir das Arbeiten bei. 1949 war es schon leichter, ich absolvierte die zehnte Klasse.
  17. Damals kaufte meine Mutter die erste neue Hose für mich. Für mich war es etwas ganz Besonderes, ich machte einen Mittelschulabschluss. 1949 gab es einen Abiturientenball, wir erhielten die Reifezeugnisse und es begann ein neues Leben.