Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Nun erzähle ich von meinen Kindheitserinnerungen, sie sind nicht so umfangreich. Jedoch erinnere ich mich, wie ich auf die Schule kam. Die Schule befand sich in unserer Nähe, nur zwei Blocks weiter – die Schule Nr. 5 in Charkow. Ich war kein besonders guter Schüler. Aber bereits als Kind hatte ich ein Faible für Auftritte. Ich weiß noch, wie ich auf einen Stuhl gestellt wurde.
  2. Es war, wie Utjossow seinerzeit (über sich) erzählte. Man schlug mir vor, etwas vorzusingen oder zu rezitieren, das weiß ich noch gut. Und ich erinnere mich natürlich an unsere Evakuierung aus Charkow. Wir fuhren genau wie Nellja in den Ural. Sie war allerdings in Swerdlowsk, und wir waren in Bogdanowitschi, 100 Kilometer von Swerdlowsk entfernt.
  3. Dorthin wurde die Fabrik für feuerfeste Stoffe evakuiert, mein Vater kam später zum Werk. Wir wurden (erst) ohne Vater evakuiert, der in Charkow blieb. Wir wurden nicht bombardiert, weil wir – Mutter, Schwester und ich – sehr früh fortfuhren. Auch die Großmutter und eine Schwester von Mama fuhren mit.
  4. Und wir lebten dann in Bogdanowitschi. Mama begann da gleich als Ärztin zu arbeiten. Sie bekam einen Pferdewagen, den zunächst ein Kutscher lenkte. Später sagte man: „Sie haben einen Sohn, vielleicht will er Sie zu den Kranken fahren?“
  5. Und ich weiß noch, wie ich, ein etwa Zwölfjähriger, mit einer Britschka fuhr und Mama zu den Kranken brachte. Für immer hab ich in Erinnerung behalten, wie die Pferde im frühen Frühjahr ausgespannt wurden und ich auf einem Pferd ritt. Da war ein Feld vom Wasser überschwemmt, und ich ritt ohne Sattel usw. über diese überschwemmte Wiese. Und ich ging weiter zur Schule, ich schloss die vierte Klasse im Ural ab – danach kehrten wir nach Charkow zurück.
  6. Unsere Familie – Mama, Schwester, ich, Großmutter, Tante – wurde im Erdgeschoss einquartiert, in einem Zimmer in einem Privathaus. Die Leute da waren nett, sie hatten noch zwei Zimmer für sich. Das war ein kleines ein- oder zweistöckiges Haus. Die Lebensbedingungen: Uns Kindern schien alles mehr oder weniger gut zu sein. Insgesamt hatte man es aber schwer.
  7. Denn ein Eimer Kartoffeln kostete etwa 600 Rubel, ein Brot 50 oder 100 Rubel. Wir hatten es vielleicht ein wenig besser, immerhin war Mama Ärztin. Es war eine Kleinstadt und Mama bekam Einiges. Kurz gesagt: Wir Kinder spürten keinen Hunger. Alles war mehr oder weniger (gut). Was noch interessant ist: Da im Ural spürte ich nichts Besonderes im Verhältnis zu uns.
  8. Man wusste, dass wir Juden und zugezogen sind. Ich spürte aber nicht, dass ich aus diesem Grund offen unterdrückt werde. Das gab es nicht, weder bei Schülern noch bei Lehrern… Die Unterdrückung der Juden bemerkte ich erst später, als ich Oberschüler in Charkow war und bei der Zulassung zum Studium. Davon werde ich noch erzählen.