Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Das Jahr 1943 war angebrochen. Smolensk wurde am 25.9. befreit, es war bereits Herbst. Anfang September, als die Deutschen wegzogen, wurden alle Leute aus dem Dorfleute… Wir hatten schon mitbekommen, dass die Deutschen alle Kinder und andere Leute vor sich hertrieben, um sie als Schutzschild zu benutzen. Sie gingen hinterher.
  2. Um dem zu entgehen… Aber auch weil bombardiert wurde, es war ja Frontgebiet, und Leute kamen dabei um. … Tante Dunja hatte die Mutter und drei Schwestern. Eine Schwester wurde nach Deutschland verschleppt – Wera, sie war jünger als Dunja.
  3. Dann gab es da (noch) Ljuba und den Bruder. Ljuba war im Alter meiner Schwester, der Bruder etwas älter, etwa 14 Jahre alt. Also: Ihre Mama, Tante Dunja, unsere Mutter mit den drei Kindern und noch einige Familien verließen nachts das Dorf.
  4. Sie nahmen Brot und noch etwas mit. Sie gingen zum Landrücken im Sumpf, nur die hiesigen Bewohner kannten den Weg dahin. Ringsum war Sumpf. Sie gingen auf den Pfaden durch den Sumpf und bauten dann Erdhütten, wo wir wohnten. Und plötzlich…
  5. Da gab es Kartoffeläcker, wo wir Kartoffeln besorgten. Wir buken die Kartoffeln im Lagerfeuer und ernährten uns so. Tante Dunjas Mutter ging einmal Kartoffen holen und sah ein Vergeltungskommando zum Landrücken gehen. Es hatte erfahren, wie man dahin kommt und dass dort Leute wohnen.
  6. Sie lief zurück und rief: „Deutsche!“ Die Leute liefen dann auseinander. Der Landrücken war ja groß, eine große Fläche im Wald. Alle liefen weg, wir folgten der Mutter. Auf uns wurde bereits geschossen. Wir wussten nicht, wohin wir laufen sollten, alle waren weg und es war dunkle Nacht.
  7. Wir saßen dann auf einer kleinen Erhebung, unter uns der Sumpf. Wir kamen irgendwie auf diese kleine Insel – das war wohl auch vom Himmel gewollt. Wir saßen darauf in dieser Nacht. Meine Mutter erzählte: Da im Wald gab es Wölfe. Und die alten Bäume leuchteten nachts wie kleine Laternen...
  8. Und Mama dachte, wir wären von Wölfen umzingelt. Zu dieser Zeit war ein Gefecht im Gange, wir saßen zwischen den Fronten und die Geschosse flogen über uns hinweg und es krachte. Etwa 20 Meter weiter war eine Chaussee, wo gekämpft wurde. Und wir saßen da in Lebensgefahr. Kurz gesagt, wir saßen bis zum Morgen da.
  9. . Ich kann mir vorstellen, wie meine Mutter (fühlte)… Sie war auch so schon grau, mit ihren 41 Jahren. In dieser Nacht bekam sie (ganz) graues Haar. Wir sahen, dass wir bald sterben. Mein Bruder war zwei Jahre alt und hatte Rachitis, seine Beinchen waren kurz. Wie sollte er im Sumpf durchkommen? Und stellen Sie sich vor: Tante Dunja ging nachts unter Beschuss über den Landrücken und rief: „Sonja!“
  10. Sie fand uns, als der Bruder schon am Versinken war. Sie sah ihn, während meine Mutter wohl schon bewusstlos war. Sie konnte den Bruder noch festhalten. Wir hielten uns irgendwie oben, und der Bruder war bereits am Versinken. Tante Dunja packte uns und zog uns von dieser Stelle weg… Sie brachte uns zu einer Lichtung, wo sich die Leute versammelten; da konnten alle überleben.
  11. Wir sahen auf die Lichtung die Unsrigen kommen. Sie waren wohl von einer Aufklärungstruppe und wir sahen zum ersten Mal unsere Soldaten. Wissen sie, die Leute erdrückten sie beinahe, sie umarmten und küssten sie. Ich war ein Kind, aber ich sehe das noch (heute) vor meinen Augen.
  12. Sie gingen dann schnell weg. Ich erinnere mich besonders an einen kleinen Soldaten, der hinkte. Er blieb etwas zurück und wir schauten ihm nach. Es war so ein Jubel, dass man es nicht wiedergeben kann.