Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. In den kinderreichen jüdischen Familien war es üblich, dass der älteste Sohn den Hochschulabschluss machte. Mein Vater war gerade so ein ältester Sohn. Man sammelte Geld, und er wurde zum Studium nach Deutschland geschickt, das war natürlich Medizin.
  2. Mein Vater absolvierte die Universität in Leipzig im Fach Medizin. Und natürlich konnte er sein Leben lang gut Deutsch. Er interessierte sich immer für Deutschland und hatte Kontakte zu Deutschland. Er erzählte mir, wie er (Gerhart) Hauptmann getroffen hat an der Leipziger Uni, als er dort vor den Studenten auftrat.
  3. Das Schicksal meines Vaters in diesen Jahren war ungewöhnlich. Er absolvierte die Leipziger Uni kurz vor dem Ersten Weltkrieg. Er kehrte heim nach Wilna, dann brach der Krieg aus. Er konnte natürlich nicht mehr zurück nach Deutschland.
  4. Er musste nach Kasan und die Examina neu machen, um das russische Diplom zu bekommen. Denn es war während des Krieges gegen Deutschland. Er erhielt das Diplom und kam gleich zur Armee. Er kämpfte im Ersten Weltkrieg, sein Regiment nahm auch am Bürgerkrieg teil.
  5. Es fügte sich, dass er von der Weißen zur Roten Armee kam, was ihm später beim Ausfüllen der Fragebögen keine Freude bereitete. Als ich „Doktor Schiwago“ von Pasternak las, musste ich oft an meinen Vater denken, obwohl sie ganz verschieden sind. Aber das war das typische Schicksal eines Intellektuellen in dieser Zeit.
  6. Ich möchte sagen: Mein Vater erzählte mir viel über seine Kindheit und über das jüdische Leben in Wilna, auch über die Sitten und Rituale. Er erzählte davon aber als Mensch aus dem russischen Kulturkreis. Bei uns zu Hause gab es nichts dergleichen; die Lebensweise, unsere Sitten und Gewohnheiten hatten nichts Jüdisches an sich.