Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich wurde (aus der Armee) entlassen und kam Ende 1952 nach Hause. Ich war natürlich froh, nach Hause zu kommen, und erfuhr, dass in der „Ärzteverschwörung“ ermittelt wurde. Das war allerdings noch nicht öffentlich bekannt, erst zwei Wochen später. Mein Vater war Arzt, Professor und Jude; er war, kann man sagen, verdammt. Er spürte schon einen furchtbaren Druck...
  2. Später erzählte ihm sein alter Freund über diese Verdammnis. Der Freund lag im Sterben und mein Vater kam ins Krankenhaus, um ihn zu behandeln. Er war auch Arzt und Gutachter im Fall meines Vaters. Er erzählte ihm, wie er und ein anderer die Ausfertigung der Unterlagen zu verzögern versucht hatten. Die Sache war die: Manche wurden aus unerklärlichen Gründen (direkt) ausgesucht... Aber auch gegen andere Mediziner wurde Material gesammelt, um sie dann anzuklagen. Sie haben dies hinausgezögert.
  3. Es ging um wenige Tage, und diese Tage fehlten dann (den Machthabern). Gott sei Dank, wir hatten wieder Glück… Wissen Sie, ich habe eine Erzählung über den Winter 1953 geschrieben. Stellen Sie sich vor: Ich suche Arbeit. Von Arbeit konnte aber überhaupt keine Rede sein. Ich begann ausgerechnet am 13.1.1953 Arbeit zu suchen, an dem Tag, als darüber (über die „Ärzteverschwörung“) berichtet wurde. Ich war in einem Verlag, und die Leiterin der Personalabteilung redete lange auf mich ein, um mich auf ihre Seite zu ziehen.
  4. Sie sagte immer wieder, was mich damals für den Rest des Lebens verblüffte: „Was fehlte denen nur? Die sind Professoren und Akademiemitglieder, die haben Autos und Datschen. Und wurden Mörder! Was fehlte denen denn!“ Als ob es logisch wäre, ohne Autos und Professorentitel Mörder zu werden. Sie hätten alles bekommen und wären trotzdem Mörder geworden. Über diese hoffnungslose Arbeitssuche habe ich eine Erzählung geschrieben mit dem Untertitel „Familienkleinkram im Winter 1953“.
  5. Und ein Bekannter von mir, ein sehr guter und bekannter Schriftsteller, sagte: „Das ist Koketterie! Was soll das – ‚Familienkram‘? Du schreibst über tragische Sachen und nennst das Familienkram.“ Ich habe den Untertitel dennoch nicht getilgt und einen neuen Absatz hinzugefügt. Ich schrieb da: Mein Freund wirft mir vor, dass „Familienkram“ kokett wirke. Aber ist das nicht wirklich Kram? Ja, meinem Vater droht die Verhaftung, er wird aber nicht verhaftet.
  6. Ich kann keine Arbeit finden, meine Freunde arbeiten aber immer noch, sie werden noch nicht gefeuert. Zur gleichen Zeit habe ich einen guten Bekannten, Lew Schemeljowitsch. Sein Vater, der berühmte Schemeljowitsch, wurde bereits als Mitglied des (Jüdischen) Antifaschistischen Komitees erschossen. Und Lew selbst wurde verhaftet und verbannt. Und mein Freund, der litauische Maler Adelbert, ist schon seit zehn Jahren in Haft, weil er nach dem Krieg zusammen mit seinem Vater deportiert worden war.
  7. Und ein deutscher Bekannter… In unserem Haus wohnte eine deutsche Familie, sie war in der Zeit in Kasachstan und eine halbe Familie ist damals bereits gestorben. In meinem Panzer – als ich Panzerkommandeur war – war der Panzerfahrer ein einfacher russischer Dorfkerl. Er wurde aber auch zwangsweise umgesiedelt, sie kamen als Neusiedler aus dem Gebiet Kalinin ins Gebiet Kaliningrad.
  8. Und ich schrieb das alles auf und sagte: „Ist das nicht etwa mein Kram? Natürlich.“ Und diesen Kram hatten alle gemeinsam. Wissen Sie, im Feuilleton wurde täglich geschrieben… Und die Leute erzählten dann ernsthaft: Auf den Theatersitzen würde man Streichholzschachteln mit Mikroben hinterlassen. Meine Mutter erzählte: In ihrer Klinik schauten sich die Kranken die Namen der Ärzte an und wollten nicht zu einem Arzt mit „falschem“ Namen gehen.
  9. Auch wenn der Name neutral klang, wollten sie nicht hin. Etwa fünf Jahre später wandte sich ein Mann an mich, ein Polizeioberst übrigens. Ich hatte ihn durch meine journalistische Tätigkeit kennengelernt. Er bat mich, einen Neurologen für seinen Sohn zu finden. Ich fragte: „Und was hat Ihr Sohn?“
  10. Er wollte mich schonen und sagte kokett: „Wissen Sie, mein Sohn wurde in der Zeit geboren, als – wie allgemein bekannt – Babys in den Entbindungsstationen eine Spritze in den Kopf bekamen. Er wurde davon krank.“ Er sagte aber nicht, wer das gemacht hat. Vor so einem Hintergrund und im Vergleich zu den genannten Beispielen hatte ich natürlich nur Familienkram. Und es ging glimpflich aus.