Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Irgendwann im Juni (1945)… – das war nach Kriegsende, wir feierten das noch in Saratow (gemeint: Leningrad) – fuhr ich nach Riga, meine Eltern waren bereits da. Wir wohnten in unserer Achtzimmerwohnung. Sie wissen ja, in der Sowjetunion war das unvorstellbar. Wir hatten Glück in zweifacher Hinsicht.
  2. Erstens traf der Vater eine alte Bekannte auf der Straße. Sie stammte aus einer sehr reichen Familie in Riga und kehrte aus einem deutschen KZ zurück, sie hatte keine Unterkunft. Mein Vater sagte: „Kommen Sie zu uns.“ Sie bekam zwei Zimmer. Außerdem hatte er eine gute Beziehung zum Hausverwalter. Kurz gesagt: Wir richteten uns irgendwie ein.
  3. Ich arbeitete dann ein Jahr im Archiv. Danach schaffte ich es – nicht ohne Beziehungen –, als Lehrkraft auf die Pädagogische Hochschule zu kommen. Ich war noch jung und weiß immer noch, wie ich zur ersten Vorlesung kam. Ich kam in den Hörsaal, da saßen junge Männer: „Junge Frau, nehmen Sie Platz!“ Sie dachten, ich sei Studentin. Ich (jedoch) sagte: „Nein, ich halte die Vorlesung.“ – „Oh-oh…“
  4. Aber es ging schon, das Verhältnis war dann gut. Ich arbeitete an der Pädagogischen Hochschule bis zu ihrer Schließung 1954. Das ist auch eine interessante Geschichte. Die (Pädagogische) Hochschule wurde geschlossen, die Studenten wurden an der Universität aufgenommen. Und die Lehrkräfte mussten selbst zurechtkommen. Zwei wurden auf der Uni eingestellt, ich aber nicht.
  5. Was tun? Beziehungen sind immer von Vorteil. Ich war damals schon verheiratet, mein Mann war Direktor des Jugendtheaters. Die Obrigkeit schätzte ihn sehr. Und es klappte, dass die Uni mich einstellte: eine halbe Stelle für ein Jahr. Ich bekam aber eine Arbeit wie für zwei Stellen, so war es. Ich arbeitete wie wild, bereitete meine Vorlesungen vor. Als das Jahresende nahte, wurde ich zur Personalabteilung zitiert: „Holen Sie Ihre Papiere, die Zeit ist bald um.“
  6. Mein Mann hatte mir aber schon beigebracht, was ich sagen soll: „Nein, ich hole die Papiere nicht ab, solange ich bei Ihnen arbeite. Ich habe keine andere Arbeit.“ Es ging um mein Arbeitsbuch. Eines Tages war ich am Lehrstuhl, als eine Mitarbeiterin namens Andrejewa hereinkam: „Ich habe eine Nachricht! Mein Mann wird nach Moskau versetzt, wir ziehen um aus Riga nach Moskau.“
  7. Andrejewas Stelle wurde ausgeschrieben. Am nächsten Tag rief mich der Lehrstuhlleiter Professor Zutis zu sich: „Reichen Sie die Unterlagen für die Stelle ein.“ Ich hatte wieder Glück. Zu dieser Zeit wurde ich schon promoviert. Oder danach, das weiß ich nicht mehr.
  8. So begann ich an der Uni zu arbeiten, zuerst als Lehrkraft, dann als Oberlehrkraft. Nach der Habilitation wurde ich dann Dozentin, danach Professorin und Lehrstuhlleiterin. Ich wurde – glaube ich – 1978 Lehrstuhlleiterin. Und so ging es bis 1990, als ich zurücktrat, da die Zeit kam, in Rente zu gehen. Und ich kam hierher.