Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Erinnerungen beginnen im Alter von fünf Jahren. 1933 herrschte Hungersnot in der Ukraine nach einer Dürre. Unser „großer Führer” ließ das ganze Getreide nach Deutschland ausführen, um die Anlagen für die Rüstungsbetriebe zu finanzieren. Es starben Millionen Menschen, heute sagt man bis zu sieben Millionen.
  2. Wir mussten aber nicht hungern, weil wir einen Gemüsegarten hatten. Mein Vater und die älteren Brüder schleppten dahin täglich über 100 Eimer Wasser. Ich weiß noch, wie meine Mutter und ich mit Tassen die Kartoffeln und Zwiebeln bewässerten. In anderen Ortschaften starben aber Tausende.
  3. Um ein Zubrot zu verdienen, bauten unsere Eltern wie alle Weinreben an. In der Nähe lag Kriwoj Rog, eine größere Stadt. Wir brachten die Weintrauben zum Verkauf dahin. Meine Mutter verkaufte sie, und wir liefen da herum. Ein Kilo Weintrauben kostete 20 Kopeken. Genau so viel kostete eine Kinokarte, wir sahen uns Filme mit Charly Chaplin an. In der Stadt wurde ein Hüttenwerk gebaut, es ist auch heute eines der größten Europas.
  4. Es wurde von den Deutschen gebaut. Für uns war es sehr interessant, die deutschen Autos anzuschauen. Damals gab es schon den sowjetischen Pkw (GAZ) „M”, aber das war kein Vergleich mit den deutschen Autos. Wir blickten in diese offenen Kabrios rein und redeten über die Ausstattung. Das war nichts Besonderes für uns, denn wir lasen ja alle Zeitungen.
  5. So lebten wir vor dem Krieg. Jede Frau musste im Kolchos 70 sogenannte Arbeitstage ableisten. Für einen Arbeitstag brauchte man manchmal auch zwei Tage. Die Steuern waren sehr hoch. Pro Henne musste man 20 Eier abgegeben, für jede Kuh zehn Liter Milch. Kam ein Inspektor, so scheuchten wir unsere Hühner ins Gebüsch und sagten: „Wir haben nur zehn Hühner.”
  6. Tatsächlich hatten wir 50 oder mehr. Die Eier und so weiter verkauften wir auch in der Stadt. In der Stadt kauften wir nur Zucker und Salz. Schuhe wurden beim Schuster (im Dorf) bestellt. Kleidungsstücke waren Mangelware und sogar Knöpfe, so war es in der Sowjetunion vor dem Krieg.
  7. Die sowjetische Medizin, vor allem auf dem Land… Da war ein Arzt für einen ganzen Landkreis. Mein Vater starb angeblich an einer Grippe. Aber wer weiß, was das wirklich war. Das war 1936. Meine Mutter arbeitete im Kolchos, wir mussten nicht hungern. Wir hatten eine Kuh und Hühner. 1940 ging es meiner Mutter schlecht, sie war wohl herzkrank, sie starb dann auch.