Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Zeit verging. Von den Jungs wusste ich, die sowjetischen Truppen sind in der Offensive. Wir warteten auf eine baldige Befreiung. Nachdem die Razzien aufhörten, gingen die Jungs nach Hause. Ich wohnte noch in Kellern, da waren halbverfaulte Möhren, Kartoffeln und Sauerkraut.
  2. Wenn die Jungs kamen, brachten sie mir etwas zu essen. So verging ein ganzes Jahr. Wenn es ganz schlecht aussah, ging ich in ein Dorf und bettelte ums Essen. Natürlich nur am Dorfrand, da leben normalerweise arme Leute, sie sind irgendwie nicht so boshaft. Eine Frau sagte: „Ich kann Dir nur eine Kartoffel geben, sonst habe ich nichts. Geh zum Markt bei der Kirche, vielleicht kannst Du da betteln.” Ich ging zum Markt. Da wurde nicht mit Geld gehandelt, es wurde nur getauscht.
  3. Ich kam zu einer alten Frau, sie verkaufte geröstete Sonnenblumenkerne. Sie gab mir eine Handvoll davon. Das war schon gut. Dann durfte ich eine Kartoffel vom Boden nehmen. Also, alles schien in Ordnung zu sein. Plötzlich sah man in der Ferne aufgewirbelten Staub. Alle wurden nervös und liefen mit ihren Taschen in die Kirche.
  4. Es kamen ukrainische Polizisten. Sie waren schlimmer als die Deutschen, weil sie raubten, was sie konnten. Sie wussten, dass die sowjetischen Truppen auf dem Vormarsch sind, sie konnten nicht mit Gnade rechnen. Wollte eine Frau etwas dem Polizisten nicht abgeben, sagte er, dass ihr Sohn bei der Roten Armee sei und schleppte sie zur Polizeistelle.
  5. Die Frauen fürchteten die Polizeistelle wie den Tod. Ich musste auch in die Kirche, es gab kein anderes Versteck. Sie könnten mich ja ergreifen und darauf kommen, wer ich bin. Am Eingang stand ein Mönch oder ein Küster, er sagte zu mir: „Für Dich ist hier kein Platz.” Also, er sah, was ich bin.
  6. Ich versuchte irgendwie hereinzuschleichen. Er stieß mich jedes Mal zur Seite, er war stark. Plötzlich nahm jemand hinter mir meine Hand und sagte: „Junge, komm mit.” Das war der Pfarrer, er hielt meine Hand und sagte: „Mikola, sag nichts!” Ich glaube, die Kirche war erst kurz zuvor wiederaufgebaut worden. In einem Nebenraum wohnten er und seine Frau.
  7. Er führte mich hinein und sagte, ich soll hier sitzen. Er gab mir eine heiße Kartoffel aus dem Ofen und einige Salzkörner. Salz war sehr teuer. Er warnte mich: „Geh nicht ans Fenster”, schloss die Tür ab und ging.
  8. Ich saß zwei oder drei Stunden da, bis der Gottesdienst vorbei war und die Polizisten weg. Alles war ruhig. Er kam und sagte: „Geh jetzt nach Romanowka, die Polizei war schon da, sie kommen heute nicht mehr hin.” Ich ging dann und wohnte weiterhin in Kellern.
  9. Da waren Kartoffeln, Sonnenblumenkerne und so. Später kamen die Jungs, sie waren jetzt ungefähr 12. Sie sagten: „Verstecken wir uns, die sowjetischen Truppen sind nah!” So verging noch eine Woche. Es kamen Frauen, sie brachten Essen, ich erhielt auch meinen Anteil. Eines Tages hieß es: „Schluss! Die Unseren sind im Dorf!”