Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Also, ich war „sozial engagiert“. Bereits im Vorschulalter versammelte ich die Kinder aus unserem Haus und las ihnen aus der Kinderzeitschrift vor. Der Titel klang sehr lustig: „Stürzen wir die Macht von Mama und Papa!“ Da hieß es, man sollte alles Spielzeug zusammenbringen und einen eigenen Raum im Haus organisieren, um dort gemeinsam zu spielen und sich sozial zu engagieren. Wir suchten die Obrigkeit auf und bekamen einen Kellerraum. Wir tapezierten ihn mit Zeitungen und brachten alles Spielzeug hin. Und ich durfte noch vor der Schule den Pionieren beitreten.
  2. Sie fragen, ob ich etwas (von den Schwierigkeiten des Vaters) verstand? Nein, ich verstand nichts. Ich war gesellschaftlich aktiv, ich trat dem Komsomol bei. Die Empfehlung bekam ich von meinem Vater, aber nicht gleich. Zunächst musste ich meine Beitrittserklärung zurückziehen, weil ich meiner Mutter zu wenig half, als sie krank war. Er sagte: „Wenn du nicht in einem kleinen Kollektiv leben kannst, schaffst du es auch nicht in einem großen.“
  3. Ich musste dann angeben, warum ich meine Beitrittserklärung zurückziehe. Ein Jahr später trat ich auf seine Empfehlung dem Komsomol bei. Ich machte alle Demos mit, ich sang und brüllte Parolen. Ich war wie alle. Ja, das Wort „Wir“. Orlando (Figes) konnte es nicht nachvollziehen, als ich ihm sagte: Ohne „Wir“ konnte ich nicht leben. Ich konnte nicht ohne mein Kollektiv leben. Mir war es wichtig, dass alle wissen: Ich bin kein Feind, ich gehöre dazu.
  4. Wir machten z.B. einmal an der deutschen Botschaft in Leningrad Halt. Wir sangen dann: „Wir haben Dimitrow befreit, nun soll Thälmann befreit werden. Einzelne Stimmen klingen und verschmelzen zu einem Aufruf: Freiheit für Thälmann! Es lebe der Führer der Proletarier!“ Das war eins von unseren (Liedern).
  5. Wir marschierten auf und die Leute schauten aus den Fenstern zu. Wir riefen dann – das musste sein: „Schande über die, die zu Hause sitzen und zum Fenster rausschauen!“
  6. Eine sehr große Bestürzung gab es nach dem Mord an (Sergej) Kirow. Heute sagt man über Kirow, er wäre genauso schlimm wie Stalin und das Ganze gewesen. Das stimmt aber überhaupt nicht. Kirow ging alleine durch die Stadt, jeder konnte ihn auf der Straße ansprechen. Einmal schrieb unsere Pioniergruppe einen Brief an ihn: Wir wollten, dass unsere Gruppe seinen Namen trägt.
  7. Wir wurden dann ins Smolnyj eingeladen, unsere Schuldirektorin hat einen Schreck bekommen. Kirow fragte uns: „Und warum wollt ihr das? Seid ihr so gut? Bekommt ihr niemals eine Fünf?“- „Doch.“ – „Macht ihr etwas Besonderes?“ – „Nein.“ – „Leistet ihr Betreuungsarbeit in einem Dorf?“ – „Auch nicht.“ – „Also, tut zuerst etwas, dann können wir reden.“ Übrigens waren wir bei der Ehrenwache nach seiner Ermordung, unsere Pioniergruppe.
  8. Das war aber die Wahrnehmung eines Kindes. Meine Eltern schliefen nachts gar nicht und flüsterten über etwas in ihrem Zimmer. Das war wohl nicht nur die Trauer, sondern sie verstanden, was jetzt nach dem Mord an Kirow passieren wird.