Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Die Zeit war beunruhigend, antisemitisch. Dass sich etwas verändert, hörte ich zum ersten Mal von dem Hospitalchef in Krasnojarsk, als er mich verabschiedete. Abram Melinkowskij, er sagte: „Du kommst (jetzt) in ein anderes Land.“ – „Welches andere Land denn?“ Er machte es mir mit einfachen Worten klar, ich glaubte ihm nicht.
  2. Dann war ich auf dem Land. Im Dorf, wo ich als Schuldirektorin zu arbeiten begann, war die Frau, bei der ich wohnte, sehr über meine Magerkeit besorgt. Sie gab mir Milch zu trinken, eine 3-Liter-Flasche täglich. Sie sagte einmal: „Ah, wenn ich nur einen Blick auf diese Ungeheuer werfen könnte!“ – „Wen meinst du?“ – „Ja, wen denn? Die Juden!“
  3. Das Gerücht von den „Ungeheuern“ verbreitete sich bis in die tiefste Provinz. Ich sage: „Dann sieh mich an.“ – „Was du nicht sagst!“ Das war aber nebenbei, ohne Bedeutung. Als ich (in Leningrad) bei der Zeitung entlassen wurde, hieß es: „Er entlässt alle Juden.“ Ich realisierte es immer noch nicht, hatte nur kurz da gearbeitet und bekam eine andere interessante Arbeit.
  4. Dann aber begann ich in meiner Schule. Plötzlich… Ich habe das noch, in meinem eigenen Archiv, ich bin eigentlich Sammlerin, bewahre Dokumente auf, die vielleicht keiner sonst hat. Ich bekam (also) ein Schreiben aus Waldaj. Sie schrieben mich aus eigenen Stücken an und machten das Angebot, dort an der Pädagogischen Schule zu arbeiten. Sie versprachen eine doppelte Beschäftigung und erzählten sogar, was es auf dem Markt zu kaufen gibt.
  5. Es wurde beschrieben, was und wie viel es auf dem Markt kostet, auch der Weg dahin wurde beschrieben. Ich lachte darüber und dachte, das sei ein Missverständnis, ich legte den Brief ab. Das war im Schuljahr 1949/50. Als das Schuljahr zu Ende ging, fuhr ich in Urlaub. Nach der Rückkehr erfuhr ich, was meine ganze Schule schon wusste: Bereits im Frühjahr wussten sie, dass mir gekündigt werden wird – auf Anordnung der städtischen Bildungsbehörde.
  6. Die Bildungsbehörde hatte wohl die Schulen in der Provinz informiert, dass sie mir eine Stelle anbieten können. Denn in der Stadt konnte ich keine Arbeit mehr finden. Meine Schuldirektorin entschied aber, ich soll zunächst meinen Urlaub machen, bevor ich informiert werde. Ich hatte nun erfahren: Ich bin arbeitslos. Sie (die Direktorin) versprach mir, eine Stelle zu finden, sie verhandele mit den Direktoren der Abendschulen.
  7. Sie wollte auch versuchen, mich auf der Schule zu behalten. Sie versetzte alle jüdischen Lehrer in die unteren Klassen. Ich konnte da allerdings nichts anfangen. Ihr war klar, das endet mit einem Skandal, weil meine Schüler keineswegs auf mich verzichten wollten. Kurz gesagt, ich sollte abwarten. Am Monatsende rief sie mich an, ich möge die Klassenbücher ausfüllen. (Und) ich blieb in der Schule.