Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine beiden Brüder studierten in Moskau. An den Wchutemas, an den Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten. Ich beschloss, auch dahin zu kommen. Ich wollte aber nicht Kunst studieren, sondern an die Fakultät für Architektur.
  2. Mir wurde aber gesagt: „Es gibt eine Anweisung, Arbeiterkinder und die Arbeiter selbst zu bevorzugen. Warten Sie nur ein Jahr, nehmen Sie eine Arbeit auf, und kommen Sie dann wieder.“ Das war der zweite Schlag auf die Rübe.
  3. Und ich begann mit meiner Arbeit auf dem Bau. Das war übrigens der Bau des „Hauses der Kommune“ in Gomel. Ich war ein ganz gewöhnlicher Hilfsarbeiter. (Einmal) kamen zwei gute Freunde zu mir, sie sagten: „Boris, wir haben uns gemeldet, nach Birobidschan zu fahren und da als Traktorfahrer zu arbeiten.
  4. Wir machen eine Ausbildung und sind dann in Birobidschan.“ Damals gab es Birobidschan noch nicht, aber es war schon geplant. Mein Vater ließ mich nur widerwillig in den Fernen Osten ziehen. Er sagte aber: „Ich möchte die Leute nicht daran hindern das zu tun, was sie wollen. Fahr hin!“ Und wir vier Leute fuhren zur Ausbildung als Traktorfahrer.
  5. Übrigens war einer meiner Gründe für die Reise, dass ich sagte: „Wir werden ja das Jüdische Autonome Gebiet aufbauen!“ Mein Vater sagte: „Da wird es kein jüdisches (Gebiet) geben!“ Heute existiert dort wirklich nichts dergleichen, so ist das.
  6. Damals war der Eindruck sehr gut. Dahin kamen sehr viele Juden aus kleinen Ortschaften, aus der tiefen Provinz. Ich selbst arbeitete im Sowchos. Und sie bekamen ein Stück Land und bauten Häuser. Ich hatte den Eindruck, dass das Geplante in die Tat umgesetzt wird. Was später kam, das ist eine andere Sache.
  7. In Birobidschan sprachen wir einfach Russisch. Dort waren aber auch die Juden aus den kleinen Ortschaften und sie konnten kaum Russisch. Es gab eine interessante Geschichte. Zum Ausbildungsende gab es eine Prüfung. Ein Mann aus der Provinz kam an die Reihe, bei ihm lief es sehr schlecht. Die Prüfer stellten ihm dann die einfachste Frage: „Warum muss eine Maschine geschmiert werden?“ Er dachte nach und sagte (mit Akzent): „Wer gut schmiert, der fährt gut.“
  8. Ich erzähle noch eine amüsante Geschichte über den Sowchos. Im Sowchos versammelten sich die Juden aus verschiedenen Orten. Aber auch einige Amur-Kosaken arbeiteten in diesem Sowchos. Einmal war die Lage so, dass man nicht arbeiten konnte, es regnete sehr stark.
  9. Das Pflügen zögerte sich hinaus, und wir versammelten uns im Zelt. Ein junger Mann fragte mich: „Wer sind das, die Juden? Sind sie Zigeuner, ja?“ Ich sagte: „Warum Zigeuner?“ – „Mein Großvater sagte, sie sind Zigeuner, die von Ort zu Ort ziehen. Nun sind sie bei uns eingefallen.“ Ich versuchte seine Ansicht zu ändern.
  10. Ich fragte: „Warst du auf der Schule? Hast du ‚Die Zigeuner‘ von Puschkin gelesen, ja? Das sind Zigeuner, die von Ort zu Ort ziehen. Die Juden zogen nicht umher, sie wurden einfach vertrieben. Deswegen sind sie… Und wir sind hier, um diese Sache aufzubauen.“ Er schaute mich lange an: „Schon gut, aber mein Großvater weiß es besser!“