Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Als Stalin starb, war ich noch in der letzten Schulklasse. In Odessa und Kiew wohnten viele Juden, und da gab es einen starken Antisemitismus. Die Erfahrungen der Abiturienten unserer Schule zeigten, dass es für die Juden sehr schwer war, auf eine Hochschule zu kommen. Deswegen wollte ich gleich weit weg, wo der Antisemitismus nicht so (stark) ist, wo es bei der Aufnahme ehrlicher zugeht.
  2. Aber Stalins Tod und die neuen Umstände – die „Ärzteverschwörung“ war kein Thema mehr – weckten Hoffnung auf Veränderung. Ich beschloss, mich in Odessa zu immatrikulieren. Ich entschied mich für das Institut für Kommunikation und reichte da meine Unterlagen ein.
  3. Ich erhielt einen Prüfungsschein und sollte sechs Aufnahmeprüfungen bestehen. Die ersten Prüfungen waren Literatur, ein Aufsatz und eine mündliche Prüfung. Wir legten die Prüfungen in Gruppen ab. Unsere Gruppe war also bei einem Lehrer, die andere bei einem anderen. Es ergab sich, dass zwei Gruppen nebeneinander saßen vor zwei Lehrkräften.
  4. Meine Gruppe – so schien es mir – wurde extra so gebildet, um sie gänzlich durchfallen zu lassen. Bei der Gruppe daneben musste alles unternommen werden, damit sie (zum Studium) aufgenommen wird. Das war so offensichtlich und unverschämt, und zeigte ein weiteres Mal, wie offen das gemacht wurde, obwohl offiziell davon keine Rede war.
  5. In diesem Jahr arbeitete ich als Schlosserlehrling in einem Werk. Nach drei Monaten bekam ich eine Qualifikation als Schlosser. Ich arbeitete im Herbst, Winter und Frühjahr. Im nächsten Jahr suchte ich für mein Studium das Polytechnische Institut in Tomsk aus.
  6. Das ist mitten in Sibirien. Ich suchte es deswegen aus: Unter allen von mir angeschriebenen Instituten – im Ural, in Sibirien und im Fernen Osten – erhielten die Erstsemestler nur in Tomsk eine Unterkunft im Wohnheim. Das war für mich das Entscheidende, warum ich nach Tomsk kam.
  7. Ich absolvierte dieselben sechs Prüfungen (wie zuvor), bestand und wurde zum Studium zugelassen. Fünf Jahre studierte ich (da) und kann sagen: In Sibirien gab es damals keinen Antisemitismus. Alles war da so gerecht, dass es mir nach den Erfahrungen mit der Ausgrenzung in Odessa sogar seltsam vorkam. Es war ja dasselbe Land…