Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Im usbekischen Samarkand wohnten meine Stiefschwestern aus Papas erster Ehe. Sie wohnten in einem usbekischen Kischlak, das war ein Kolchos oder Sowchos. Wir beschlossen, zu ihnen nach Zentralasien zu ziehen.
  2. Denn meine Eltern waren krank, es war sehr kalt und die Ärzte empfahlen uns fortzugehen. So kamen wir nach Zentralasien. Im Kischlak waren wir nur wenige Tage und ließen uns in Samarkand nieder – in der Altstadt, Koschhaus-Straße 36.
  3. Wir wohnten da und etwas später kamen auch die Schwestern aus dem Kischlak in diese Straße. Wir mussten da natürlich hungern. Papa war bereits im Rentenalter, er konnte die 40 Grad Hitze nicht mehr ertragen. So ging es uns allen.
  4. In unserem Hof wohnte eine russische Nachbarin, sie gab dem Papa eine Nähmaschine mit Fußpedal. Papa nähte dann Kinderhosen zum Verkauf. Das ist witzig – Reithosen für Kinder.
  5. Übrigens war ich damals 11 oder 12, und ich nähte auch. Ich bin gut im Nähen. Meine ältere Schwester konnte es nicht. Sie versuchte es mal und nähte die Hosenbeine hinten an.
  6. Papa erlaubte es ihr nicht mehr. Und ich konnte nähen. Meine zweite Schwester Polina studierte da an der pädagogischen Schule. Am 22.11.1942 starb Polina an der Schwindsucht.
  7. Da gab es keine gutes Essen, sonst hätte sie vielleicht gerettet werden können. Sie starb und am Tag der Beerdigung wäre sie 18 geworden.
  8. Diese Schwester war von uns die Schönste. Sie war blond und hatte lange Zöpfe. Einen Tag vor dem Tod bat sie um Spiegel und Kamm. Sie kämmte das Haar, flocht sich einen Zopf und schnitt ihn mit der Schere ab: „Nehmt ihn als Andenken.“
  9. Diesen Zopf bewahrte ich auf bis zur Abreise nach Deutschland. Ich traute mich nicht, ihn mitzunehmen – vielleicht waren da Mikroben drin oder so. Ich bewahrte aber den Zopf auf bis zum letzten Tag in Odessa.
  10. Vorher hatte meine ältere Schwester einen Traum. Sie sah, wie Polina gemessen und weiß bekleidet wird. Am frühen Abend starb Polina.
  11. In unserem Zimmer stand ein langer Tisch und sie schlief auf ihm. Danach schlief keiner mehr auf dem Tisch. Sie schnitt ihren Zopf ab und starb am frühen Abend.