Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mein Vater hielt alle jüdischen Feste ein, die Familie war mit dabei, nach den Vorschriften. Er kannte die jüdische Geschichte, konnte jüdische Bücher lesen, er besuchte seinerzeit die jüdische Schule. Jedoch war er nicht besonders gläubig, nein. Meine Mutter eher, mit ihr zusammen ging er in die Synagoge.
  2. Aber er hatte ein etwas kritisches Verhältnis zu manchen religiösen Fragen. Er glaubte nicht an die Gebete und Verneigung, er lehnte das ab. Er nahm es innerlich an, aber… Meine Mutter war eher gläubig. In der Kriegszeit saß meine arme Mutter immer über dem Gebetbuch.
  3. Sie betete und weinte, sie flehte. Mein Vater beachtete nur die Vorschriften. Er sagte (zu uns): „Ihr seid Juden, ihr müsst alle eure Feste und eure Geschichte kennen.“ Wir fragten ihn: „Hältst du dich für einen Atheisten? Warum verlangst du es dann?“ – „Na ja, ich will, dass ihr alle Regeln und Vorschriften und Feste kennt.“
  4. Wobei diese Feste immer sehr gut ausgerichtet waren. Es war sehr schön und festlich. Wir mochten das, wir bekamen neue Kleider, wir waren schön angezogen. Auch meine Eltern hatten es (in ihrer Kindheit) genauso. Wir mochten das Fest. Wir vertieften uns nicht ins Religiöse, besonders die Kinder.
  5. Wir wuchsen aber in der Zeit auf, als das allgemein verboten war, als die Feste verboten waren. Man kaufte heimlich Matze, wie es sein muss. Es gab auch eine Zeit, als sie nicht zu kaufen war. Meine Mutter machte dann selbst so ein Gebäck, das war Matze.
  6. Meine Mutter zündete jeden Freitag Kerzen an und betete zu Gott. Sie weinte immer dabei, und mein Vater fragte sie: „Warum weinst du? Die Kerzen verstehen dich nicht.“ So war es. Er hielt aber alle (Vorschriften) ein, er war in so einer Familie erzogen und wollte es weitergeben.
  7. Unter der Sowjetmacht durfte man überhaupt nicht an Gott glauben, es hieß: „Es gibt keinen Gott.“ Mein Enkel, mein Neffe und sogar (mein Kind) – als sie klein waren, riefen sie: „Es gibt keinen Gott!“ Wenn ich sagte: „Oh Gott“ oder „Gott hilf uns“, hörte ich: „Oma, es gibt keinen Gott!“ – „Und woher weißt du das?“ – „Aus dem Kindergarten.“ Also im Kindergarten sagte man: „Es gibt keinen Gott.“
  8. Sie verstanden nicht, was Nationalität ist. Sie wussten, dass sie in der Ukraine leben. Mein Neffe und meine Tochter sind Altersgenossen, und einmal sagte sie, sie sei Ukrainerin, weil sie in der Ukraine lebe. Er meinte: „Wie kannst du Ukrainerin sein, wenn ich Russe bin?“
  9. Er wusste nicht, dass er Jude ist, erst später sagte man ihm das. Er fragte einmal sogar: „Warum hat man einem Jungen gesagt, dass er Jude ist? Was ist das, ein Jude?“ Er begann danach zu fragen. Später wussten sie es genau.
  10. Zu Hause sprachen wir immer nur Russisch. Meine Eltern konnten die jüdische Sprache und wechselten ab und zu einige Worte, um vor den Kindern etwas zu verheimlichen.
  11. Für uns war das natürlich weit weg. In meiner Jugend konnte ich noch etwas, weil in unserem Haus viele Juden wohnten und sie miteinander sprachen. Ich hörte das und behielt es im Gedächtnis. Aber ich kann leider nicht Jiddisch sprechen, nur ein wenig verstehen.