Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. In Noworossijsk lebte ich die ersten fünf Jahre. Mein Vater war nicht da, meine Mutter arbeitete wieder im Hafen. Und meine Großeltern kümmerten sich um mich. Mein Großvater arbeitete noch, er war ein hochqualifizierter Schlosser.
  2. Für mich war er wohl wie ein Vater, ich hing sehr an ihm. Meine Großmutter war eine sehr gute Schneiderin, damals aber eher Hausfrau. Denn die Zeiten waren schon anders: Alle Damen, für die sie vor der Revolution geschneidert hatte, waren nicht mehr da. Sie hatte keine Aufträge mehr.
  3. Früher lebten sie in Tuapse, meine Mutter wurde da geboren. Sie waren ziemlich wohlhabend, mein Großvater hatte zwei Häuser. Dabei waren sie aber keine Adeligen, sie waren Juden, die alles selbst erarbeitet hatten. Mein Großvater war ein sehr guter Schlosser und meine Großmutter war eine sehr gute Schneiderin.
  4. Meine Mutter erinnerte sich daran, wie schöne Kutschen zum Haus kamen und feine Damen da ausstiegen. Und im Haus war ein Spiegel, der bis zur Decke reichte. Sie schneiderte Oberbekleidung, so etwas hatten wir nie im Leben gesehen. Sie hatten vier Kinder: drei Schwestern wie bei Tschechow und noch einen Sohn, den kleinen Mischa. Alle gingen zur Schule, lernten Fremdsprachen.
  5. Meine Großmutter war nur vier Jahre auf der Schule, sie war aber gebildet und theaterbegeistert. Kam ein Theater nach Tuapse, ging sie mit ihren „Küken“ dahin. Ich kann mich an unser Zimmer in Noworossijsk erinnern, es hatte zwei Fenster, dazwischen stand eine Singer-Nähmaschine.
  6. Die Großmutter nannte sie „Ernährerin“. Links war ein Piano, denn früher konnten alle musizieren. Auf dem Piano saß eine Schlafpuppe, ich durfte sie nur betrachten. Rechts standen zwei Bücherschränke mit grünem Stoff an den Glastüren. Darin waren Beilagen der Zeitschrift „Niva“ mit den Werken der Klassiker. Unten waren die „Niva“-Ausgaben gestapelt.
  7. Und es hingen Porträts... Meine Mutter konnte sehr gut mit Öl malen. Ihr Lehrer sagte ihr eine große Zukunft voraus. Der Großvater sagte aber, dass sie ein Handwerk beherrschen solle. Deswegen musste sie mit 15 Jahren eine Ausbildung als Zeichnerin machen.
  8. Ich weiß noch, dass hinten das Bett meiner Großeltern stand. Nebenan war mein Bettchen. Und da stand ein runder Tisch mit einer samtigen Fransendecke, unter dem ich gerne spielte.
  9. Nebenan war der Eingang in die abgetrennte kleine Küche, sie hatte ein Fenster mit einer breiten Fensterbank. Dort schlief meine Mutter und die Großmutter kochte dort und machte den Haushalt. An das alles habe ich schon bildliche Erinnerungen.
  10. In den 1920er-Jahren ließ der Großvater sich vom NÖP-Rausch anstecken und machte einen Laden auf. Er war kein Schlosser mehr, sondern machte Kommerz. Am Ende kam es so, dass sie aus Tuapse fliehen mussten, alles wurde konfisziert. Sie wären beinahe nach Sibirien verbannt worden und wurden „Lischenzy“. Das heißt, sie hatten kein Wahlrecht, das war nicht so wichtig. Aber ihre Kinder durften nicht studieren.