Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Nach dem Schulabschluss ging ich nach Moskau studieren. Ich war naiv und wollte zur Moskauer Universität. Aber man zeigte mir ganz klar, dass das nicht möglich sei. Ich musste mich dann mit der pädagogischen Hochschule begnügen.
  2. Ich studierte fünf Jahre, zuerst Literatur, danach Geschichte und Philologie. Also zwei Fachgebiete, und mein Diplom wurde hier anerkannt. Aber viele Leute schafften es nicht, weil sie nur Sprache und Literatur oder nur Geschichte studierten. Ich habe beides studiert. Deswegen wurde mein Diplom anerkannt.
  3. Das Studium war für mich interessant, ich habe immer gerne gelernt. Ich mochte vor allem Literatur, später aber auch Geschichte, das hat auch Spaß gemacht, insbesondere antike Geschichte und das Mittelalter, das war sehr interessant. Bereits an der Hochschule zeigte sich meine Neigung zur ausländischen Literatur. Den Lehrstuhl für ausländische Literatur leitete Marija Jelisarowa. Sie war die Nichte von Mark Jelisarow und dadurch mit Lenin verwandt.
  4. Und dank dieser Tatsache... Sie war parteilos, wollte nicht der Partei beitreten und billigte vieles nicht. Sie war außergewöhnlich bescheiden und anständig. Sie unterstützte ihre Studenten und Doktoranden. Eine Studentin wurde wahnsinnig, und sie zahlte ihr eine Rente aus eigener Tasche. Sie betreute uns alle. Ich erzähle viel über den Lehrstuhl, weil ich als Doktorandin auch am Lehrstuhl für ausländische Literatur war.
  5. Da herrschte eine patriarchalische familiäre Atmosphäre. Tonangebend war natürlich Marija Jelisarowa. Äußerlich war sie streng und alle fürchteten sie wahnsinnig. Meine Freundin Inka nahm Baldrian, wenn sie zur Prüfung ging. Ich fürchtete sie nicht, ich achtete sie sehr.
  6. Sie spürte das wohl und bevorzugte mich später als Doktorandin. Und da war noch der Professor für ausländische Literatur, Boris Purischew. Viele Lehrer kamen aus seiner Schule, er unterrichtete sogar Anikst, obwohl er nicht wesentlich älter war. Anikst kehrte von der Front zurück...
  7. Und Boris Purischew geriet in Kiew in Kriegsgefangenschaft. Er war Germanist. Kurz gesagt, Marija Jelisarowa rettete ihn, sonst hätte er gesessen, wie sehr viele unserer Hochschullehrer saßen. Es saß Franz Schiller, sein Leben wurde zerstört, er war Deutscher. Es saß der Russe Scheschukow, es saß der Jude... Wie hieß er denn, er leitete den Lehrstuhl nach Schiller...
  8. Ich hatte auch sehr gute Beziehungen zu Alexej Ternowskij vom Lehrstuhl für sowjetische Literatur. Er stammte aus einer alten Intelligenzija-Familie, sein Vater polemisierte mit Wladimir Lenin. Und trotzdem starb er zu Hause, zum Glück. Alexej Ternowskij hatte es in seinem Leben schwer.
  9. Er war zunächst nur Dozent, wurde dann aber Professor ohne sich zu habilitieren. Ich beschäftigte mich bei ihm mit den frühen Werken von Majakowskij, mein Thema war Majakowskij als Futurist. Er führte mich ins Haus, wo Lilja und Ossja Brik und Majakowskij wohnten. Ich durfte die Bibliothek da benutzten, er machte mich mit Lilja Brik bekannt.
  10. Und er prophezeite mir eine große Zukunft, wenn ich das Thema weiter verfolgen würde. Ich begriff aber, dass Majakowskij scheiterte, als er in die Richtung gehen wollte. So wäre es auch mir ergangen, ich sah keine Perspektive. Ich folgte seinem Ratschlag nicht, ich bevorzugte die ausländische Literatur.