Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Für neue Doktoren gilt bei der Arbeitssuche die Regel: „Kein Schritt hinter den Ural.“ Ich ging aber nach Komsomolsk-am-Amur, ich hatte keine Angst vor dem Fernen Osten.
  2. Ich hatte ja insgesamt vier Jahre auf Sachalin gewohnt, deswegen flog ich mutig dahin. In Komsomolsk-am-Amur verbrachte ich fünf Jahre. Zunächst war ich eine einfache Lehrkraft, aber ein Jahr später... Ich hatte schon promoviert, mein Diplom wurde nachgeschickt, so war ich Doktor nach deutscher Auffassung.
  3. Der Lehrstuhlleiter Poljakow musste dann gehen, und ich wurde für vier Jahre kommissarische Leiterin am Lehrstuhl für russische und ausländische Literatur. Dort gelang es mir, einen hervorragenden Studienraum einzurichten. Der Rektor sah meinen Enthusiasmus, er unterstützte mich und billigte alle Mittel für den Studienraum. Ich
  4. Ich fuhr jährlich nach Moskau, manchmal sogar zwei Mal, und besuchte die besten Antiquariate. Man kannte mich, und ich durfte die Werkausgaben im Lager aussuchen. Und auch Schallplatten. Ich gründete eine Phonothek, sie war so gut, dass Fernsehleute zu uns kamen, um die Aufnahmen auszuleihen.
  5. Ich kann stolz darauf sein, dass die erste Ausgabe von Franz Kafka, es war so ein schwarzer Band, im Studienraum in drei Exemplaren vorhanden war. Jemand hat mir erzählt, dass es in Lettland oder Litauen nur ein Exemplar von Kafka gäbe. Das war eine gute Hinterlassenschaft. Ich gab dort mehrere Kurse: ausländische Literatur des 19. und des 20. Jahrhunderts.
  6. Auch antike Literatur, weil wir sonst niemanden hatten. Allerdings wurde ich dort auch krank, weil ich mich überanstrengte. Die Lebensbedingungen waren ganz schlimm. In den Lebensmittelgeschäften gab es nur blutiges Walfischfleisch. Ich konnte es nicht einmal ansehen. Und es gab noch Pferdebeine mit Haut, sonst nichts.
  7. Ich war fünf Jahre lang dort. Wenn ich in Moskau war, schleppte ich jedes Mal 100 Hühnereier ins Flugzeug. Und noch die jugoslawischen Dosen mit Schinken, sie wogen 2 Kilo. Und eine Kiste voll Tütensuppe, davon lebte ich.
  8. In Komsomolsk verbrachte ich fünf Jahre. Einerseits waren das gute Jahre, ich war jung, alle am Lehrstuhl waren auch jung. Ich war zunächst wohl die einzige Promovierte da, nachdem der frühere Lehrstuhlleiter gegangen war. Den Lehrstuhl leiten konnte ich nicht. Das war so ein Freundeskreis.