Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Mutter wusste nichts von meinem leiblichen Vater, gar nichts. Nur ich habe dann etwas erfahren. Sie erfuhr, dass er am Leben ist, nachdem sie einen Brief vom KGB bekommen hatte.
  2. Er suchte uns 1947, als er in Kriegsgefangenschaft war. Er schrieb an das Rote Kreuz, so erfuhr sie, dass er noch lebt. Sie konnte nicht begreifen, wie er Kriegsgefangener sein konnte. Zuerst dachte sie, dass er erschossen worden sei. Als sie den Brief bekam, dachte sie, dass er in Sibirien säße. Aber wie kommt das, dass er Kriegsgefangener ist?
  3. Ich war 11 Jahre alt, als ich adoptiert wurde. Und ich erfuhr damals zum ersten Mal, dass mein Vater Deutscher ist. Aber Mutter sprach nicht mit mir darüber, ich erfuhr etwas von meiner Tante Olga. Sie sagte zu mir: „Willi ist gut, beruhige dich.“ Ich war sehr beunruhigt, denn sehr viele meiner Familienangehörigen waren während der Krieges erschossen worden – in einer Schlucht oder, wie es bei zwei Mädchen war, gleich in einem Hof.
  4. Ich dachte: „Sie wurden ermordet, und ich lebe noch – warum das? Und ich bin Deutsche.“ Und ich war sehr aufgewühlt. Meine Tante beruhigte mich und sagte immer: „Willi ist sehr gut, gutherzig“, und so weiter. In der Nähe gab es eine Baustelle, unser Fenster war gerade auf dieser Seite, wo die Deutschen arbeiteten.
  5. Meine Mutter lud einen Deutschen heimlich zu uns nach Hause ein. Er kam vorsichtig, und sie gab ihm Brot und die Hemden meines Vaters. Ja, sie hatte einfach so eine Regung. Und sie sprachen miteinander etwas Deutsch. Ja, ich bekam das mit, das kam vor.
  6. Und ich bewarf sie nie mit Wassermelonenschalen wie die Jungs. Als die Baustelle mit unserem Fenster gleich hoch war, spielte dieser Mann mir während der Arbeitspausen „Rosamunde“ auf der Mundharmonika. Seitdem liebe ich „Rosamunde“.
  7. Meine deutsche Freundin ist Antifaschistin, sie sagt: „Warum liebst du ‘Rosamunde’, das Lied wurde von den deutschen Soldaten gesungen, als sie an die Ostfront gingen!“ Ich antworte ihr: „Ich liebe ‘Rosamunde’“.
  8. Zum Schluss, während der Perestrojka – die Sowjetunion war noch nicht zerfallen – fuhr ich zum KGB nach Moskau, das ist am Lubjanka-Platz, an Kusnetzkij most, da ist die Verwaltung. Ich sagte, dass ich mehr über meinen Vater wissen will. Zu dieser Zeit hatte ich bereits ein Dokument aus Pawlowo bekommen, wo der Name meines Vaters, Willi Riewe, durchgestrichen war, und geschrieben stand, dass ich von Ewriwiad Ionkis adoptiert wurde.
  9. Dann sagte ich, dass ich wissen will, was meinem Vater passiert war. Ich erwähnte aber nicht, dass er uns nach dem Krieg gesucht hatte, das verschwieg ich. Und dann bekam ich einen Termin, und es hieß, dass er 1938 deportiert wurde und in keinem Lager und keinem Gefängnis gewesen wäre.
  10. Das war gelogen, er saß im Gefängnis, ihm wurden da alle Zähne rausgeschlagen. Später erfuhr ich viel mehr, damals hieß es jedenfalls, dass er in keinem Lager gewesen wäre. Mir wurde empfohlen: „Suchen Sie ihn durch das Rote Kreuz.“ Ich ging zum Roten Kreuz und stellte sofort einen Antrag.
  11. Man ließ mich aber lange Zeit auf eine Antwort warten. Ich wollte nicht länger warten und wandte mich nach Wien, weil ich nach seinem Freund Toni Trenker suchte. Ich dachte, dass ich von ihm mehr erfahren könne. Die Antwort lautete, dass es unmöglich sei, Toni Trenker zu finden, da das Geburtsdatum und der Geburtsort unbekannt sind.
  12. Ich konnte ja da keine Angaben machen. Ich sollte die Heimat meines Vaters, (den Suchdienst in) München, anschreiben. Und ich tat das, und dann bekam ich gleichzeitig die Antwort aus München und die vom Moskauer Roten Kreuz. Und die Antworten lauteten, dass er bereits tot sei. Es wurde aber bestätigt, dass er in Kriegsgefangenschaft gewesen war.
  13. Und dass er im Januar 1951 heimgekehrt ist – nach Charlottenburg, in die Straße, wo er früher mit meiner Oma zusammen gewohnt hatte: Hohenstaufenstraße 23. Nun kann ich erzählen, wie wir nach Deutschland einwanderten. Das ist auch eine lange Geschichte. Meine Auswanderung war nicht einfach, denn wir wurden zunächst abgewiesen, es gab eine lange Korrespondenz mit dem Auswärtigen Amt. Erst dank der Hilfe eines Beamten konnten wir hierher kommen.
  14. Er annullierte alle früheren Ablehnungen, und wir durften hier einwandern. Nach der Ankunft begann ich (Anfragen) zu schreiben, mein Deutsch war damals allerdings ganz schwach. Ich schrieb trotzdem Berlin, Tiergarten und Spandau an, alle Orte, die ich kannte. Ich erfuhr, dass er im Krankenhaus in Tiergarten starb. Niemand wusste aber, auf welchem Friedhof er begraben wurde. In dieser Zeit konnte ich feststellen, dass er seine letzten Jahre nicht in der Hohenstaufenstraße wohnte, sondern...
  15. Ich habe notiert, wie die Straße heißt, da gibt es mehrere Straßen mit englischen Namen. Da liegen Häuser, die in den 1930er-Jahren, in der Hitler-Zeit, gebaut wurden. Das ist ein ganzer Stadtteil, ich kam dahin und stand im Hauseingang, wusste aber nicht, welche Wohnung er hatte. Später bekam ich Hilfe von Herrn Marten Marquardt, dem Rektor der Melanchthon-Akademie. Er besuchte dieses Haus und fand eine Nachbarin, die die Frau meines Vaters kannte.
  16. Er heiratete sie einige Jahre vor seinem Tod, sie hieß Elli. Die Nachbarin sagte, dass Elli in ein Altersheim ging, die Wohnung aber bis zum letzten Tag behalten wollte und die Miete zahlte. Und dann war es vorbei, keine Einzelheiten mehr. Also diese Spuren... Hauptsache ist, dass ich Toni Trenker in Wien fand. Er schenkte mir drei Briefe meines Vaters, aus denen hervorgeht, dass er den Brief meiner Mutter aus Odessa und mein Foto gesehen hat.
  17. Er hat den Brief gelesen, durfte ihn aber nicht mitnehmen, das schreibt er in den Briefen. Meine Mutter wusste das nicht, ich konnte aber immerhin vieles in Erfahrung bringen. Er beschrieb in diesen Briefen, bei welchem Unternehmen er arbeitete und dass er bald in Rente geht, weil er schon mehrere Infarkte hatte. Leider lebte er als Rentner nur noch wenige Monate und starb nach einem weiteren Infarkt.