Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Was kann ich nun über die Familie erzählen? Ich kannte Mamas Geschwister, die den Krieg überlebten. Und die anderen… Die Geschichte dieser Familie ist dadurch interessant, ich erfuhr neulich: Sie stammten aus dem kleinen jüdischen Ort Swislotsch bei Bobrujsk.
  2. Aus Mamas Erzählungen wusste ich, dass mein Großvater aus einer Flößerfamilie stammte. In Weisrussland gab es viele Wälder, Bäume wurden gefällt, zersägt und als Flöße den Fluss herunter transportiert.
  3. Vor zwei Jahren gelang es mir, mich in den weißrussischen Archiven kundig zu machen. Verwunderlicherweise blieben die Synagogenbücher fast aller weißrussischen Landkreise erhalten – aus dem 19. Jahrhundert und fast bis ins 18. Jahrhundert.
  4. Ich erfuhr, dass mein Großvater ein ehemaliger Zarensoldat war. Sein zweiter Bruder war auch in der Armee. Die Juden wurden damals rekrutiert, und er diente lange Jahre in der Armee. Mütterlicherseits weiß ich, dass ihr älterer Bruder der markanteste war – Abram.
  5. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg. 1917 wurde er Mitglied der Bolschewiken-Partei; er war ein aktiver Mensch. Er hatte wohl Bildung, ich weiß aber nicht welche. In den 1920er-Jahren arbeitete er aktiv in der Partei und studierte am „Institut der roten Professur“ in Moskau.
  6. Danach arbeitete er als Sekretär eines Gouvernement-Parteikomitees auf der Krim. Und die Krim war dadurch interessant: Da gab es in Dschankoi und anderen Orten jüdische Kolchosen und Siedlungen.
  7. Er arbeitete ungefähr bis 1932 da, weil sein einziger Sohn in Dshankoj geboren wurde. Jurik starb vor zwei Jahren in Stockholm. Und der Onkel arbeitete dann in Moskau und hatte einen für damals sehr hohen Posten inne.
  8. Er war Leiter des ZK einer Ernährungsgewerkschaft. Während des Krieges war er Vertreter des Staatlichen Verteidigungskomitees in Kasachstan, wo Fabriken für die Fleischverarbeitung aufgebaut wurden. Sie versorgten die Rote Armee.
  9. Er starb 1944, hatte aber noch erfahren, dass Mama im Minsker Ghetto überleben konnte. Er versuchte auf naive Weise durch Parteigremien zu erreichen, dass ich ins Hinterland herausgeflogen werde.
  10. Was sage ich zu den anderen Verwandten von Mama? Lange Jahre gab es ein Familiengeheimnis: Eine Schwester lebte in Amerika. Verwandte im Ausland zu haben und insbesondere nach dem Krieg in Amerika, das war ein Verbrechen. Und ich hörte, wie der Bruder aus Bobrujsk einmal flüsterte: „Zilja lebt.“
  11. Wann und wie sie auswanderte, das wusste ich nicht. Nach dem Krieg, nach der Perestroika, kamen Briefe. Im Internet gibt es ein Verzeichnis der Mormonen, die in den letzten 150 Jahren nach Amerika einwanderten.
  12. Beim zweiten Versuch fand ich es heraus. Sie wanderte noch vor der Revolution mit 18 Jahren aus. Irgendwo in Amerika lebt ihre Tochter. Mein Neffe traf sie genauso wie meine Cousine.
  13. Mama hatte noch die ältere Schwester Riwwa. Sie hatte vier Kinder: drei Söhne und eine Tochter. Die Söhne waren zu Kriegsbeginn 20, 15 und neun. Die Tochter war wohl schon 16 Jahre alt. Ihr Mann arbeitete als Fahrer. Als der Krieg ausbrach…
  14. Alle Fahrer waren beim Kriegkommissariat registriert. Er schaffte es, die Familie mit seinem Wagen 60 Kilometer zu einem Bahnhof östlich von Minsk zu bringen. Da lebten die Verwandten. Er fuhr dann zu seiner Truppe.
  15. Er bekam nicht einmal eine Uniform, da wurden sie eingeschlossen, und er kam ins Minsker Ghetto. Die Familie kam mit großen Schwierigkeiten nach Semipalatinsk. Und da starben alle drei Söhne an Seuchenkrankheiten.
  16. Mama hatte noch zwei Schwestern, die im Minsker Ghetto umkamen. Eine Schwester hatte ein dreijähriges Kind, die jüngste Schwester Olja hatte die Tochter Margarita, sechs Jahre alt. Und sie bekam kurz vor dem Krieg noch Zwillinge.