Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wir wurden nach Sibirien evakuiert. Die meisten Betriebe aus Zentralrussland wurden nach Sibirien und Zentralasien evakuiert – Taschkent usw. Wir waren in Sibirien in der sehr bekannten Stadt Tomsk. Tomsk liegt in der Nähe der Großstadt Nowosibirsk und ist durch seine Universitäten und eine sehr gut entwickelte Industrie berühmt.
  2. Da gab es eine gute Infrastruktur, um die komplexe Maschinen- und Werkzeugindustrie unterzubringen. Und einige Moskauer Fabriken wurden eben nach Tomsk evakuiert. In der Evakuierung lebten wir bis 1949 und kehrten im gleichen Jahr zurück.
  3. Meine Erinnerungen basieren auf persönlichen, sehr lebendigen Erinnerungen und ebenso auf Fotos, die ich ehemals sah. Und noch auf den Erzählungen der Eltern und aus dem Umfeld. Jedenfalls habe ich sehr klare Erinnerungen an die Meldung über den Kriegsausbruch.
  4. Mir scheint, dass ich selbst die Radioansprache von Stalin gehört habe, als er sich an die „Brüder und Schwestern“ wandte: „Es hat der Große Vaterländische Krieg begonnen.“ Ich weiß noch, dass wir eilig die Sachen in der Wohnung packten, denn wir wurden zusammen mit dem Werk „Der Fräser“ evakuiert.
  5. Wir nahmen mit, was wir tragen konnten. Und ich weiß, dass wir mehrere Tage in umgebauten Güterwagen unterwegs waren. Und ich weiß, dass wir lange, lange unterwegs waren.
  6. Wir stiegen an Bahnhöfen aus, um kochendes Wasser für Tee zu holen. So einen Eindruck behielt ich davon zurück. Und ich weiß, wie wir dann nach Tomsk kamen und eine Wohnung bekamen, in der Leute aus dem Ort wohnten.
  7. Sie gaben uns ein Zimmer mit einem separaten Eingang. Daran kann ich mich gut erinnern. Außerdem kann ich mich an einige von unseren Sachen aus der Kriegszeit in dieser Evakuierungswohnung erinnern.
  8. Wir hatten z.B. eine Hausapotheke aus Holz, auf die wir… Es gab keinen Strom und wir stellten darauf eine Petroleumfunzel. Kerzen waren nicht auffindbar, nur eine Funzel. Das erstens. Zweitens hatten wir ein altes Koffergrammophon, an das ich mich klar erinnern kann.
  9. Mein Papa hat anscheinend viele wertvolle Sachen nicht mitgenommen, aber die große Schallplattensammlung. An die Schallplatten und das Grammophon kann ich mich noch gut erinnern.
  10. Ich weiß z.B., unter den Schallplatten war eine berühmte und für mich sehr wichtige: Iwan Koslowskij singt Werthers Arie aus der Massenet-Oper „Werther“; drei Arien aus drei Akten. Ich hörte die Schallplatte so viel und so oft, dass die „Werther“-Oper jetzt für mich einen Symbolwert hat.
  11. Wenn die Arie aus dem dritten Akt erklingt – „Warum weckst du mich, du Frühlingshauch?“ – möchte ich sie immer mit meinem Papa hören. Ich nehme sein Foto und höre diese Arie immer nur zusammen mit Papa. Für mich ist das so etwas wie Zeiten verbindend.
  12. Als wir nach Tomsk kamen, war ich erst zarte drei Jahre alt. Daher wurde ich 1945 in Tomsk eingeschult. Ich ging vier Jahre zur Schule in Tomsk.
  13. D.h., im Dezember 1949 war ich schon in der vierten Klasse. Wir zogen dann um, und ich besuchte die vierte Klasse bereits weiter in Sestrorezk.
  14. Das Ministerium, zu dem Vaters Werk gehörte, versetzte ihn ins Werk für Maschinen- und Werkzeugbau in Leningrad. Genauer gesagt, das war das berühmte Werk in Sestrorezk, noch von Peter I. gegründet.
  15. Es ist dadurch berühmt, dass in dem Werk die besten russischen Waffenschmiede gearbeitet hatten. Es waren Tokarew und Degtjarjow, also es geht um MPs, MGs usw. In der Zarenzeit war der berühmte Mossin Werksdirektor.
  16. Er entwickelte das „Drei-Linien-Gewehr“, das in Russland sehr lange benutzt wurde, beginnend mit dem Ersten Weltkrieg.