Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. In Sestrorezk besuchte ich weiter die vierte Klasse. Ich beendete die damals übliche Siebenklassen-Schule und ging dann auf eine andere, wo ich die zehnte Klasse absolvierte.
  2. Die Zehnklassen-Schule schloss ich ab in… Bei Sestrorezk befindet sich die weltberühmte Bahnstation Rasliw, nach dem Ort benannt. Da war die Schule, die ich absolvierte. Sie lag am Rasliwsee, wo sich Lenin vor der Provisorischen Regierung versteckt hatte. Und da gab es eine ständige Wallfahrt.
  3. Wir wurden auch so erzogen… Unsere Mentalität war so, dass wir alles aufnahmen, was man uns beibrachte. Daher fuhren wir immer mit den Gästen nach Rasliw, wenn wir Besuch hatten. Wenn wir etwas Neues zu Hause hatten, z.B. das Fahrrad unseres Sohnes oder ein Kajak, machten wir die erste Fahrt immer dorthin, zu Lenins Hütte.
  4. Bei uns galt das als symbolischer Ort, der neue Sachen sozusagen einweihte. Für uns war es ein Fest, und wir machten es immer. Wir wohnten dann am Seeufer und konnten durch das Fenster riesige Kugeln auf dem anderen Ufer sehen. Sie waren auf der Promenade, wo Lenin und Sinowjew seinerzeit angeblich anlegten.
  5. Unsere Familie hatte weder kommunistische noch ausgesprochen religiöse Überzeugungen. Papa sagte nie etwas Schlechtes über die Kommunistische Partei. Überhaupt versuchte er nichts Schlechtes zu sagen, weil das Leben lehrte: Ein Wort zu viel könnte ins Lager führen.
  6. Das erstens. Zweites war er ein geborener Optimist und versuchte, in allen Dingen das Gute zu sehen. Und drittens war er ein einfacher Mensch, Arbeiter, und verkehrte im Arbeitermilieu. Er interessierte sich für Kunst usw. Deswegen war für ihn kein Thema schlecht, z.B. über die Kommunisten zu reden oder über religiöse Themen usw.
  7. Aber an den jüdischen Festtagen, z.B. Simchat Tora oder Pessach… Das interessierte uns, uns war da bewusst, dass wir zu den Juden gehören. Und wir fuhren zur Synagoge. Das war irgendwie üblich, so wie heute in eine Theatervorstellung zu gehen. Wir fuhren genauso hin, ohne religiös zu sein, für uns war es interessant, unter den Juden zu sein.
  8. Das war aber immer gefährlich. Man dachte immer dabei: Die „Organe“ fotografieren und beobachten, so kann man Probleme auf der Arbeit kriegen usw. Gott war uns jedoch gnädig, wir bekamen keinen Ärger wegen dieser Sache.
  9. Wir lebten in einer Umgebung… Und durch die Propaganda, die in allen Medien gegenwärtig war… Wir hatten damals natürlich kein Fernsehgerät, sondern nur ein Radio mit einem großen Diffusor, wir hörten Musik usw.
  10. Und nach Stalins Tod 1953 glaubten wir aufrichtig, das sei ein großer Verlust für das sowjetische Volk und für uns. Und wir wussten schlichtweg nicht, wie wir weiterleben sollten.
  11. Denn die Informationen, die wir später nach Chruschtschows Rede auf dem Parteikongress bekamen, und die Entlarvung des Personenkultes waren uns damals noch nicht bekannt. Dazu hatten wir einfach keinen Zugang, darüber wurde nie gesprochen.
  12. Daher weinte unsere Lehrerin an Stalins Todestag usw.; ich war damals in der siebten Klasse. Und für uns war das vollkommen selbstverständlich. Vom Personenkult erfuhren wir erst später, als Chruschtschow das in seinen Reden entlarvte usw.
  13. Um das Thema der Partei in meinem Leben abzuschließen, möchte ich sagen: Ich war auch Parteimitglied. Nach der Schule arbeitete ich als Fräser in einem Werk. Damals gab es auch Quoten für den Parteibeitritt.
  14. Z.B. für einen Ingenieur mussten zehn Arbeiter Parteimitglieder werden. So war es für einen Fräser leicht, der Partei beizutreten. Ich trat der Partei bei, dabei schätzte man mich als aktiven Mensch ein.
  15. Ich war im Komsomolbüro und später Leiter einer Parteigruppe. Jedoch sah ich das Parteileben und die Partei selbst als Religion an: Die Partei ist auch wie eine Religion.
  16. Außerdem war mir bewusst: Das Parteileben ist sehr wichtig, um im Leben weiter zu kommen. D.h. ich war mitnichten Karrierist, mir war jedoch ganz klar: Die Meinung des Parteileiters und der Parteiorganisation ist sehr wichtig. Sie bestimmen, ob einer weiter kommt oder nicht. Daher hatte ich nie Konflikte mit der Partei.
  17. Als Parteimitglied nahm ich an den Versammlungen teil, wo manches sehr streng kritisiert wurde. Vor allem, wenn jemand für seine Tat kritisiert wurde, und ich merkte, das ist zu Unrecht, unternahm ich alles und spielte meinen Einfluss aus, damit der Druck der Parteiideologie dieses Leben nicht durchkreuzt.
  18. Ich versuchte zu erreichen, dass die Partei und die Ideologie Menschenleben nicht kaputt machen. D.h. ich versuchte immer menschlich zu sein. Und sehr viele Leute sind mir – ich leitete ja große Kollektive – sehr für meine Hilfe dankbar, ihr Leben nahm keinen Schaden.