Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Dass Antisemitismus existierte, wusste ich. Ich spürte das auch am Schicksal anderer Menschen. Ich war aber selbst davon nicht betroffen, weil ich in der echten Produktion arbeitete. Daher kam ich wenig in Berührung mit der Antisemitismus-Frage. In der Schule gab es so etwas nicht.
  2. Bei uns gab es Tataren, Armenier, Georgier, Russen und Juden. Wir sprachen nie über die Nationalitätenunterschiede. Und auf der Arbeit war ich nie persönlich davon betroffen, abgesehen von manchen komischen Vorfällen. Jedenfalls war ich als Spezialist so wertvoll, dass ich vom Antisemitismus nicht betroffen war.
  3. Ich erzähle eine komische Episode: Die letzten Jahre arbeitete ich in einem sehr großen Betrieb, er hieß „Elektronpribor“. Der Generalkonstrukteur auf einem Gebiet der Weltraumtechnik nahm aus bestimmten Gründen direkten Kontakt mit mir auf.
  4. Er bat darum, dass die unter meiner Leitung stehende Produktionslinie für ihn Geräte herstellt – für das Weltraumprogramm, was sehr wichtig war.
  5. Zu uns kam jeden Monat der erste stellvertretende Minister. Er leitete alle Sitzungen, (Fachleute) anderer Betriebe kamen auch hin und berichteten über ihre Arbeit. Viele Werke bauten einen Mikroprozessor ein.
  6. Er war sehr rar, und das Ministerium für Elektronikbau konnte damit nicht die Werke anderer Ministerien versorgen. Sie produzierten das nur für den Eigenbedarf. Erst über das Politbüro oder so konnte man erreichen, dass wir die Mikroprozessoren bekommen, allerdings waren sie nicht von den Militärs abgenommen worden.
  7. Der stellvertretende Minister sagte dann: „Die Mikroprozessoren sind organisiert, baut sie ein, auch ohne die Abnahme des Militärs.“ Ich war bei jeder Sitzung dabei und sagte: „Das geht nicht, denn der Militärvertreter in Baikonur wird unsere ganze Produktion ablehnen.
  8. Wenn Sie hier den Militärvertretern befehlen, das abzunehmen, heißt das nicht, dass das auch dort angenommen wird.“ Der haute dann mit der Faust auf den Tisch: „Macht das!“ Das war eine Art von Präludium.
  9. Und es kam dann genauso: Als die Produktion mehrerer Betriebe in Baikonur angekommen war, wurde das Ganze nicht abgenommen. Der stellvertretende Minister rief dann meinen Generaldirektor an. Der ließ mich gleich kommen, damit ich ihr Gespräch mithöre.
  10. Der Minister sagte: „Wer hat euch erlaubt, einfache Mikroprozessoren einzubauen? Ihr habt die ganze Arbeit versaut, jetzt muss alles neu gemacht werden!“
  11. Mein Generaldirektor sagte verängstigt: „Ich weiß es nicht, dafür ist Vladimir Movshits verantwortlich. Er ließ sie einbauen.“ Der sagte: „Movshits… Er ist doch Jude. Vielleicht ist das das Werk der Zionisten? Vielleicht hat er das extra gemacht, damit unser wichtiges Projekt scheitert?“
  12. Der Direktor sagte: „Ich weiß nicht, wir haben eine gute Meinung von Movshits. Aber mag sein…“ – „Dann muss Movshits dafür gefeuert werden!“ Der Direktor sagte: „Nun, wenn es sein muss, dann feuern wir ihn.“ – „Und Sie, Wladimir Iljitsch, kommen dann ins Gefängnis…“
  13. Nein, umgekehrt – ich ins Gefängnis und er wird gefeuert. Er sagte: „Ja ja…“ Der Minister sagte: „Na gut, das war ein Witz. Ich kenne Movshits sehr lange. Ist gut, ich gebe euch gute Mikroprozessoren, macht es schnell.“ Diesen Witz aber – Gefängnis usw. – gab es immerhin.
  14. Ich wusste aber sehr gut, dass ich nicht angetastet würde: Auch im Gefängnis würde ich die Produktion leiten. Ich würde dort keine Steine schleppen. Denn ich wusste, welchen Wert ich hatte.