Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Tatiana Polotovskaya

Tatiana Polotovskaya wurde am 24. Juli 1930 in Leningrad als einziges Kind von Chanan und Anna (geb. Drasne) Kantor geboren. Beide Eltern stammten aus Lettland – der Vater aus Daugavpils, die Mutter aus Riga – und waren am Ende des Ersten Weltkrieges nach Petrograd (so der offizielle Name der Stadt 1914–1924) gekommen. Der Vater war Uhrmacher, die Mutter half zunächst im Haushalt ihrer älteren Schwester, die später aber nach Lettland zurückkehrte. Durch die Verwandten im „Ausland“ – Lettland hatte 1918 seine Unabhängigkeit erklärt – geriet die Mutter Anfang der 1930er-Jahre in den Fokus des sowjetischen Geheimdienstes NKWD. Sie wurde vorgeladen, aber wegen ihrer kleinen Tochter, die sie auf Anraten ihres Mannes mitgenommen hatte, wieder nach Hause geschickt. Fast alle Familienmitglieder in Lettland wurden während des Zweiten Weltkrieges Opfer der Schoa.
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde Tatiana mit ihrer Klasse in ein 150 km entferntes Dorf evakuiert. Als die chaotischen Umstände der Evakuierung bekannt wurden, holte die Mutter Tatiana auf eigene Faust zurück.
Nach wochenlangem Beschuss schloss die Wehrmacht am 8. September 1941 den Belagerungsring um Leningrad – die fast 900-tägige Blockade begann. Die Vernichtung der Leningrader Bevölkerung durch Hunger war ein bewusst einkalkuliertes nationalsozialistisches Kriegsziel. In den nächsten Monaten mussten die ohnehin kärglichen Brotrationen mehrfach gesenkt werden, zudem war der Winter 1941/42 einer der kältesten im 20. Jahrhundert. Die städtischen Dienstleistungen – Strom, Wasser, Kanalisation und Müllabfuhr – brachen zusammen, Heizmaterial wurde knapp. Das Massensterben der Leningrader Bevölkerung begann. Der einzige verbliebene, zunächst aber nicht erschlossene Zufahrtsweg nach Leningrad war die Route über den Ladogasee, der im November 1941 zufror, sodass eine Eistrasse über die „Straße des Lebens“ eingerichtet werden konnte. Doch für viele Leningrader kam dies zu spät. Am 7. Februar 1942 starb auch Tatianas Vater an Entkräftung.
Erst im Frühjahr 1942 besserten sich die Versorgungssituation und die allgemeinen Lebensbedingungen. Die Mutter konnte eine Arbeit aufnehmen, und ab September 1942 ging Tatiana wieder zur Schule. Im Sommer 1943 arbeitete sie fünf Monate lang in einem Sowchos am Stadtrand, dafür wurde ihr die Medaille für die Verteidigung von Leningrad verliehen.
Am 27. Januar 1944 war die Blockade von Leningrad offiziell beendet. Tatiana besuchte weiterhin die Schule, machte 1949 Abitur und studierte bis 1954 am Technologischen Institut. Sie heiratete und bekam eine Tochter. Nach fünf Jahren in einem Werk für Gerätebau arbeitete sie 26 Jahre lang bis zur Rente im Projektinstitut „Gipropribor“, wo sie Galvanik- und Leiterplattenhallen für die ganze Sowjetunion entwarf.
Im Jahr 2000 kam Tatiana Polotovskaya mit ihrem Mann Abraham Polotovski nach Köln, wo auch ihre Tochter lebt. Als Gründe für die Entscheidung, Russland zu verlassen, nennt sie die verschlechterten Lebensbedingungen seit der Perestroika und den Wunsch, dem Enkel den Wehrdienst in der russischen Armee zu ersparen. Die Familie habe sich entschieden, hierher zu kommen, „weil Deutschland ein demokratisches Land ist und man hier ruhig leben kann“.