Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Haim Schulkin

Haim Schulkin wurde am 12. Dezember 1928 in der Kolonie Nowoshitomir (Novozhytomyr) geboren, in einer ländlichen Gegend nahe der Stadt Kriwoj Rog, in der verschiedene Bevölkerungsgruppen – Ukrainer, Russen, Deutsche, Juden – neben- und miteinander lebten. Haims Kindheit war von Mangel und harter Arbeit geprägt. Jüdische Traditionen spielten in seiner Umgebung eine wichtige Rolle, wurden aber während der 1930er-Jahre von der Sowjetmacht zurückgedrängt.
Haim hatte drei Geschwister. Seine Eltern, ein Buchhalter und eine Kolchosarbeiterin, schafften es zwar, die Familie durch die große Hungersnot und Hungerpolitik der 1930er-Jahre zu bringen, starben jedoch 1936 und 1940 an Krankheiten. Um Haim kümmerten sich fortan Verwandte; einen Teil seiner Schulzeit verbrachte er bei einer Tante in Kriwoj Rog und seiner Schwester Ida in Donezk (damals Stalino). Wenige Tage vor dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion kehrte er jedoch in sein Heimatdorf zurück.
Nachdem die Wehrmacht im Sommer 1941 das Gebiet um Kriwoj Rog erobert hatte, erhielt der Ort eine Besatzungsverwaltung, die sich auf deutsche SS- und Polizeiangehörige sowie ukrainische Polizisten stützte. Die jüdische Dorfbevölkerung wurde ihres Besitzes beraubt und zu Zwangsarbeit in der Landwirtschaft sowie beim Straßenbau verpflichtet. In den folgenden Monaten ermordeten die Besatzer mehrere hundert Menschen aus dem Bezirk – vor allem Alte, Kinder und Frauen. Die übrigen wurden zunächst im Dorf Schirokoje ghettoisiert. Später kamen sie in das Lager Ljubimowka, wo permanente Todesgefahr herrschte.
Im Dezember 1942 gelang Haim Schulkin von dort die Flucht. Er versteckte sich in verlassenen Häusern und lebte zusammen mit einigen ukrainischen Jungen, die untergetaucht waren, um sich dem deutschen Zwangsarbeitereinsatz zu entziehen. Um überleben zu können, übernahm Haim Arbeiten in Dörfern der Umgebung. Er erhielt Hilfe von Seiten der Landbevölkerung, war aber auch von Entdeckung, Denunziation und Verhaftung bedroht. Um nicht aufzufallen, hatte er den Namen eines früheren ukrainischen Mitschülers angenommen: Wassilij Petrowitsch Andr-juschtschenko.
Nach der Befreiung des Gebiets durch die sowjetischen Truppen Anfang 1944 meldete sich Haim Schulkin – obwohl nicht volljährig – bei der Roten Armee. Als Soldat war er an der Befreiung der Ukraine und Polens beteiligt. Nachdem er im April 1945 bei der Überquerung der Oder verwundet worden war und längere Zeit im Kranken-haus verbracht hatte, wurde er 1946 wieder aus der Armee entlassen.
Da sein Geburtsort zerstört und fast alle Verwandten ermordet waren, kehrte Haim Schulkin nicht in seine Heimat zurück. Den Namen Wassilij Andrjuschtschenko behielt er, auch um antisemitischen Anfeindungen und Verfolgungsmaßnahmen des sowjetischen Sicherheitsapparates zu entgehen. In seinem Pass stand unter Nationalität: „Ukrainer“.
Haim Schulkin ging nach Orsk, wo er eine Schlosserlehre machte, die Abendschule absolvierte und ein Technikum besuchte. Nach Ende des Studiums 1955 zog er nach Riga, wo er schließlich als Meister und Hallenleiter in einem großen Werk für Landwirtschaftsmaschinen tätig war. 1955 heiratete er Ida Katz, die als Lehrerin ar-beitete. Aus der Ehe gingen zwei Söhne hervor, von denen einer heute noch in Riga lebt.
Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Lettlands än-derte sich das Leben der Familie Schulkin deutlich. Die schwierige wirtschaftliche Situation veranlasste einen der Söhne und die Schwiegertochter zur Auswanderung nach Deutschland. Sie schufen sich dort eine neue berufliche Existenz. Das Ehepaar Schulkin folgte ihnen; seit 1999 wohnen sie in Köln.
Den Namen Wassilij Andrjuschtschenko legte Herr Schulkin noch in den 1990er-Jahren ab. Nachdem ihm die lettischen Behörden zunächst Papiere auf den Na-men „Haims Sulkins“ ausgestellt hatten, kann er nun wieder seinen Geburtsnamen tragen: „Haim Schulkin“.