Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия

Jewgenij Maisel

Jewgenij Maisel wurde am 13. Mai 1935 in Leningrad als zweites Kind von Boris und Anna Maisel geboren. Beide Eltern stammten aus bürgerlichen, gebildeten und gutsituierten jüdischen Familien. Der Vater Boris Maisel (1888-1957) wuchs in der westweißrussischen Kleinstadt Neswish auf, wo sein Vater ein Versicherungskontor leitete. Er absolvierte die Schule mit Auszeichnung und studierte danach am Polytechnischen Institut in St. Petersburg. Die Mutter Anna geb. Pines (1898-1967) verbrachte ihre Kindheit in Königsberg, wo ihr Vater einen Holzhandel betrieb. Vor dem Ersten Weltkrieg zog die Familie nach Minsk. Anna studierte in Moskau Jura, übte den Beruf aber nicht aus. 1922 heiratete sie Boris Maisel.
Anfang der 1930er-Jahre geriet der Vater, der zu dieser Zeit das (staatliche) Kontor für Holzexport in Leningrad leitete, in den Fokus einer stalinistischen Verfolgungskampagne. Er wurde verhaftet und verbrachte zwei Jahre in Einzelhaft. Sein Bruder Noj, ein bekannter sozialdemokratischer Politiker in Lettland, intervenierte für ihn – nach der sowjetischen Okkupation der baltischen Staaten wurde er selbst verhaftet und verbrachte zehn Jahre im Gulag.
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion 1941 sollte Anna Maisel mit ihren beiden Kindern aus Leningrad evakuiert werden, doch Jewgenij erkrankte und musste zurückbleiben. Mit seinem Vater erlebte er im Winter 1941/42 die Schrecken der Leningrader Blockade – Bombenangriffe, Hunger, Kälte, den allgegenwärtigen Tod. Im Frühjahr 1942 wurden Vater und Sohn über die „Straße des Lebens“ auf dem zugefrorenen Ladogasee aus der Stadt evakuiert. Als sie am anderen Ufer ankamen, wurde Boris Maisel von einem Armeeangehörigen erkannt, der bei ihm studiert hatte. Mit seiner Hilfe konnten sie ihre Reise in den Ural fortsetzen. In der Industriestadt Krasnokamsk (bei Perm) trafen sie Mutter und Schwester wieder. Nach dem Ende der Leningrader Blockade (27. Januar 1944) kehrte zunächst der Vater zurück, im August 1944 folgte der Rest der Familie.
1952 schloss Jewgenij Maisel die Schule mit einer Auszeichnung ab. Trotzdem wurde er aufgrund des staatlich geübten Antisemitismus nicht an der Universität zugelassen; er immatrikulierte sich daher an der Fakultät für Elektrotechnik des Instituts für Eisenbahningenieure. Nach dem Studienabschluss bekam er eine Stelle als Ingenieur in einem medizinischen Forschungsinstitut, wo sein Interesse für Biochemie geweckt wurde. Er studierte nebenher Biologie und arbeitete nach neun Jahren als Ingenieur 35 Jahre als Biochemiker. Er promovierte, betreute selbst Doktoranden und verfasste ca. 70 wissenschaftliche Artikel.
1961 heiratete Jewgenij Maisel seine Frau Sinaida. Das Ehepaar entschied sich im Jahr 2000, nach Deutschland zu übersiedeln, nachdem die Tochter nach Israel und der Sohn nach Deutschland ausgewandert waren. Obwohl Herr Maisel es bedauert, nicht besser Deutsch zu können und die Chancen und Möglichkeiten für Zuwanderer differenziert beurteilt, ist er mit seinem Leben in Deutschland zufrieden: „Antisemitismus gibt es überall, auch in Deutschland – aber hier gibt es keinen Staatsantisemitismus.“