Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Eine Granate schlug in das Dachfenster unseres Hauses ein. Das Haus hatte vier Stockwerke, wir wohnten im zweiten. Das war in der Nähe der Küche, meine Mutter kam wie durch ein Wunder heil davon, weil sie gerade loslief um mich zu suchen.
  2. Der Fensterrahmen flog ihr nach, sie nahm das aber nicht wahr. Die Brandbomben kamen in großer Menge herunter. Mein Vater war auch im Bereitschaftsdienst und löschte sie.
  3. Im Dachgeschoss standen Fässer mit Sand und Wasser. Dies hielt man für eine einfache Sache. Am 8. September bombardierten über 200 Bomber Leningrad – (die Zahl) erfuhr ich später.
  4. Sie zerstörten die Badajew-Lagerhäuser, meistens Holzbauten mit Lebensmittel. Wir waren damals der Meinung: Diese Lagerhäuser wären der Grund für den Hunger gewesen.
  5. Später wurde aber bekannt, dass die dortigen Vorräte von Mehl und Zucker nur für eine Woche ausgereicht hätten. Das alles brannte lichterloh.
  6. Als wir nach der Entwarnung den Luftschutzraum verließen, war die andere Straßenseite taghell, sie verlief quer zu den Badajew-Lagerhäusern. Insgesamt gab es keine Beleuchtung mehr in der Stadt, die Leute waren mit kleinen Lämpchen unterwegs, um Zusammenstöße zu vermeiden.
  7. An manchen Stellen leuchteten blaue Lampen. Dann verschwanden die letzten Lebensmittel und die Brotration war Anfang Oktober nur noch 150 g – für Angestellte, nichtarbeitende Leute und Kinder.
  8. Die Arbeiter bekamen 300 g. Und im November waren es 125 g. Das Brot war furchtbar: Zellulose, Spreu und Kleie waren beigemischt. Und Mehl, das an den Anlagen und Wänden des Mehlkombinats eingesammelt wurde, wurde auch dem Brot beigemischt.
  9. Außerdem war das Brot irgendwie schwer und feucht. Später wurde klar, dass die Verkäufer es mit Wasser bespritzten, um etwas für sich zu behalten. Das Brot wog dann mehr.
  10. Ich konnte damals nicht verstehen, warum die Mutter und ich von einem Brotgeschäft zum anderen zogen. Sie fragte immer: „Ist das Brot trocken?“ Dann wurde mir alles klar.
  11. Ich muss erwähnen, dass wir vom Blockadebeginn an… Sie begann am 8. September, als die deutschen Truppen die Oktjabrskaja-Eisenbahnlinie durchschnitten.
  12. Vom Norden griffen die finnischen Truppen an, sie kamen Leningrad sehr nahe. Und die Deutschen erreichten das Ufer des Ladogasees. So wurden die Stadt und auch die Truppen blockiert. Die Stadt war im Westen, im Osten standen bei Wolchow sowjetische Truppen.
  13. Sie konnten aber nichts ausrichten. Wie allgemein bekannt, gab es mehrere Versuche, die Blockade zu durchbrechen. Die Gegend da ist aber sehr sumpfig, die deutschen Truppen richteten Stellungen ein, sie konnten mit Kanonen den Ladogasee beschießen.
  14. Außerdem konnte die Wolchow-Front nichts erreichen, obwohl sie besser versorgt wurde als die Leningrader Front, die zusammen mit der Bevölkerung belagert war. Alles war schlecht vorbereitet und einige Versuche endeten erfolglos, aber mit großen Verlusten der sowjetischen Truppen.
  15. Vor Neujahr beging meine Mutter beinahe eine Heldentat. Am Körper und an den Beinen geschwollen, nahm sie den Schlitten, stellte zwei Eimer drauf und fuhr zur Fontanka, denn wir wohnten in der Nähe.
  16. Sie wollte Wasser holen, um den Vater und mich zu waschen. Denn die sanitären Verhältnisse waren schlimm: kein Abwassersystem und keine Wasserleitung.
  17. Und kein Strom, wir lebten mit einer Funzel mit kleinem Docht, wir gossen etwas Petroleum hinein. So wurde der Raum beleuchtet. Wir wohnten in dem kleinen Zimmer, es war leichter zu heizen.
  18. Das einzig Gute, was wir damals hatten, das war Brennholz, zu dieser Zeit bedeutete das viel.
  19. Meine Mutter fuhr zur Fontanka. Da waren Eislöcher eingeschlagen, die Leute schöpften Wasser heraus, füllten die Eimer und gingen mit den Schlitten über die bereits vereisten Stufen hoch. Sie rutschten aus, fielen hin und gingen wieder Wasser schöpfen.
  20. Diesen Weg ging meine Mutter auch. Also, sie brachte Wasser, wärmte es auf dem kleinen Metallofen, dessen Rohr mit dem normalen Ofen verbunden war. Sie wusch mich, den Vater und sich, alles in demselben Wasser.
  21. Danach hatten wir ein Festmahl. Wir kochten Chicoree, tranken die Brühe und aßen den Bodensatz. Damit gingen unser Waschgang und das Festmahl zu Ende.