Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Wir kamen in die Kindersammelstelle. Da waren Kinder, die zur Front fliehen wollten, also ganz verschiedene Kinder. Und wir kamen aus einem behüteten Zuhause, waren unerfahren. Als ich das erste Mal da aß – sie alle aßen sehr schnell. Ich konnte das aber nicht.
  2. Ich versuchte schnell zu essen, weil wir hungrig waren. Und ich erbrach alles, denn… Es war natürlich unangenehm, ich konnte aber nicht schnell essen, wissen Sie. Für mich war es eine Tragödie, denn alle Kinder hatten schon gelernt schnell zu essen.
  3. Und wir kamen ins Stalin-Waisenhaus an der Eisenbahnstation Arys. Das ist nicht weit von Tschimkent. Und ich lebte von 1942 bis 1945 dort, bis Kriegsende. Mein Bruder war kürzer da, denn alle Jungs im Waisenhaus stahlen. Im Waisenhaus bekamen sie ja wenig zu essen und hatten Hunger. Und sie verkauften alles (Gestohlene) auf dem Markt, da wurde alles gekauft.
  4. Und es kam so, dass mein Bruder mal ans Mädchenzimmer klopfte. Sie fragten: „Wer ist da?“ – „Borja!“ Mein Bruder heißt Boris. Sie öffneten die Tür, die Jungen liefen herein, klauten alles und brachten das auf den Markt. Denn es gab wenig zu essen.
  5. Und ich wurde in dieser Zeit krank, meine Beine versagten. Ich konnte ein ganzes Jahr lang nicht gehen. Ich hatte Avitaminose. Alle Kinder gingen ins Feld und sammelten Bärlauch. Und ich konnte das nicht essen. Wissen Sie, ich war aus einem behüteten Haus, ich kannte mich überhaupt nicht aus.
  6. Und diese Kinder waren an alles gewöhnt, denn ihre Eltern waren im Gefängnis inhaftiert. All die Kinder waren Russen. Und es gab noch eine Deutsche. Und wir lagen zu dritt auf der Isolierstation. Die Deutsche starb später an Magentuberkulose. Und ich war dann mit noch einem Mädchen zusammen. Sie hatte Tbc, und ich hatte gelähmte Beine, ich konnte nicht gehen.
  7. Also, der mittlere Bruder von Mama war an der Front. Und mein älterer Onkel auch. Und der mittlere arbeitete in einem Rüstungsbetrieb in Sibirien. Er war als Fachmann unverzichtbar und dazu magenkrank, er arbeitete in Sibirien. Er schickte mir sogar Geld ins Waisenhaus. Ich kaufte mal ein großes Brot dafür und verteilte es im ganzen Zimmer. Jede von uns bekam ein kleines Stückchen Brot.
  8. Denn wir bekamen sehr wenig Brot im Waisenhaus. Ich weiß noch, im Waisenhaus aßen wir „Satirka“, das war Mehlsuppe. Wir gaben Salz hinzu und sagten, es sei zu salzig. Trotzdem bekamen wir keinen Nachschlag. Wir gingen dann zum Wasserhahn, verdünnten sie mit Wasser und aßen sie so. Also, wir machten einiges durch. Es ist besser, sich an das Waisenhaus nicht zu erinnern.