Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Am frühen Morgen brach ich (von Propojsk) auf und ging durch den Kolchos-Garten zum Fluss, ich kannte mich da ein bisschen aus. Ich traf dort einen Mitschüler; ich denke, er hatte mich bemerkt. Das war Nikolaj Tepljakow.
  2. Er sammelte Brennholz dort oder Ähnliches. Ich ging aber weiter die Sosch entlang und erreichte dann wohl Karma, auch ein jüdischer Ort. Am Sosch-Ufer war alles zugefroren, es lag Schnee. Ich wurde in einem Haus nicht eingelassen und im nächsten auch nicht.
  3. Denn es gab einen Befehl: „Niemanden übernachten lassen!“ Wenn ich (mal) hineingelassen wurde, bekam ich Kartoffeln… Eigentlich hatte ich gar keinen Hunger, eine Kartoffel reichte mir für den ganzen Tag. Man schickte mich zu einem anderen Haus, in das ich eintrat. Da waren zwei Kinder und eine ordentliche Frau, die mich tatsächlich übernachten ließ.
  4. Sie gab mir zu essen und (sagte): „Klettere auf den Ofen!“ Mir wurde da warm. Kurz danach, eine gute Stunde später, kam ein großer Mann mit einer Polizei-Armbinde. Ich hatte keine Angst, aber er hätte mich fragen können – woher ich komme usf. Er stellte jedoch keine Fragen, schleppte ein geschlachtetes Kalb ins Haus und beschäftige sich mit ihm. Ich sah nur ihn, niemanden sonst.
  5. Am Morgen kletterte ich vom Ofen herunter, als es noch dunkel war. Draußen gab es einen Schneesturm, es schneite. Und die Frau sagte mir: „Du musst die Kleidung wechseln.“ Ich hatte einen Gehrock an, typisch jüdische Kleidung. Ich trug die Chromleder-Stiefel meiner Mutter. Also: die Stiefel und der Gehrock. „Du musst die Kleidung wechseln. Nimm das Hemd.“ Sie gab mir ein handgewebtes Hemd zum Druntertragen, zum Drübertragen hatte ich (noch nichts).
  6. Sie sagte zu mir: „Überquer die Sosch, da steht ein Schuppen. Im Schuppen ist ein Junge, der gibt dir eine Geburtsurkunde.“ Und ich begann zu ahnen: „Da steckt was dahinter.“ – „Du bleibst fürs Erste dort. Wenn du willst, kannst du die Sosch entlang gehen, da wohnt ein alter Mann, ein Fischer. Bitte ihn um Bastschuhe, er wird sie dir geben.“
  7. Wissen Sie, was Bastschuhe sind? Sie wurden bei uns aus Zweigen geflochten. Ich ging aus dem Haus heraus. Es schneite und kein Schuppen war zu sehen. Ich beschloss, nicht hinzugehen und nicht nach dem Schuppen zu suchen, denn der Schnee lag hoch. Und ich ging entlang der Sosch und fand den alten Mann. Da übernachtete ich.
  8. Er gab mir Bastschuhe und Fußlappen. Ich steckte meine Stiefel unter den Gehrock. Er fragte mich: „Kannst du Fußlappen wickeln?“ Ich sagte: „Ich kann alles“ und wickelte sie um die Füße. – „Wo hast Du das gelernt?“ Ich kannte das, Bastschuhe wurden auch bei uns getragen. Dann verabschiedeten wir uns, sonst sagte er nichts, und ich ging.