Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Als ich am Kaganowitsch-Institut in Charkow Jura studierte, war ich im ersten Jahr aus gesundheitlichen Gründen vom Militärdienst freigestellt – Nephritis. Damals wurde ein Gesetz über Militärdienst verabschiedet, im Volksmund hieß es „Woroschilow-Gesetz“. Das hing damit zusammen, dass am 1.9.1939 der Weltkrieg begonnen hatte.
  2. Im zweiten Studienjahr wurde ich eingezogen, meine Nieren waren nun in Ordnung. Zusammen mit mir kam ins 144. Haubitzenartillerieregiment in Proskurow Natan Walschonok, ein sehr begabter Student. Ehrlich gesagt, er war begabter als ich, er konnte besser Deutsch. Wir sprachen miteinander einfach so Deutsch, weil es interessant war – zwei junge jüdische Männer.
  3. Ja, wir kamen in eine sogenannte Ausbildungsbatterie und sollten nach sechs Monaten Unteroffizier werden und nach zwei Jahren als Unterleutnant in die Reserve gehen. Da wurden alle mit Mittelschulabschluss und die Studenten der ersten Studienjahre versammelt. Wir waren in einer alten zaristischen Kaserne stationiert, in alten schlechten Räumen.
  4. Ich war ein vorzüglicher sowjetischer Patriot. Ich wollte alles nur bestens machen und auch so leben. Und nicht nur für mich alleine, sondern für das ganze Volk. Wir trugen die Liebe zum Volk in uns. Und mein Herz schmerzte sehr für die Juden.
  5. Walschonok wurde bald zum Stellvertreter des Politruk ernannt. Seine Rangabzeichen waren wie beim Feldwebel – vier Dreiecke, allerdings ohne Umrandung. Und ein fünfzackiger Stern am Ärmel. Alles, was ich gerade erzähle, war wichtig. Er wurde Dolmetscher für Deutsch.
  6. Das muss man verstehen: Im Stab der 80. „Donbass-Proletariat“-Division, mit einem Leninorden ausgezeichnet, war ein Dolmetscher gefragt. Es lief auf den Krieg hinaus, ich begriff das sofort. Ich brauchte keine Erläuterungen und Gespräche. Ich begriff, es läuft auf den Krieg gegen Deutschland hinaus.
  7. Das war kein verdeckter, sondern ein offener Zug. Er (Walschonok) wurde später in die Aufklärungsabteilung des Armeestabes in Lwow beordert. Ich wurde nach ihm Vertreter des Politruk und ging dann in die Aufklärungsabteilung des Divisionsstabes. Ich ging in seinen Fußstapfen. Und während des Krieges holte er mich in den Armeestab. Wir waren dann zusammen beim Untergang.
  8. Ich sage jetzt: Ich suchte so einen roten Stern für den Ärmel in allen Kaufhäusern für Militärs und fand keinen vor dem Krieg und auch nicht im Krieg.
  9. Das sollte sehr bedeutsam für mein Überleben werden. Mir war es damals noch nicht bewusst. Denn die Deutschen erschossen Politoffiziere mit so einem Stern sofort auf der Stelle.
  10. Also, ich war vor dem Krieg Dolmetscher für Deutsch in der Aufklärungsabteilung der 80. Division. Dann begann ich den oberen Offizieren des Divisionsstabs Deutsch beizubringen, u.a. dem Chef der operativen Abteilung, Oberst Gmyrja.
  11. Gleich danach gab ich regelmäßig Deutschunterricht für alle Kommandeure des 100. Aufklärungsbataillons, es unterstand dem Divisionsstab. Mir war klar, auf was das hinausläuft. Ich sah polnische Kriegsgefangene in Proskurow.
  12. Sie wurden unter Bewachung zur Eisenbahnlinie geführt, wo sie arbeiteten. Sie konnten kaum gehen und keiner trieb sie an, das muss man wahrheitsgemäß sagen.
  13. Sie arbeiteten sehr langsam. Sie starben nicht an der Arbeit, sie wurden alle erschossen, insbesondere die Offiziere, u.a. auch 600 Juden – Ärzte usw.