Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Am 6.11.1941 wurden wir – fünf Deutsche und ich – nach Luckenwalde gebracht. Das ist eine Stadt südlich von Berlin. Wir waren die ersten da. In einer Barackenhälfte des Kriegsgefangenenlagers wurden alle Russlanddeutsche zusammengezogen, es waren etwa 100 Leute. In diesem Lager waren Engländer, Belgier, Jugoslawen, Polen.
  2. Als wir da ankamen, waren da schon 4.000 sowjetische (Kriegsgefangene). Wir blieben nur wenige Monate da, wir waren da während der Typhus-Quarantäne. Und da waren nun schon 50.000 sowjetische Kriegsgefangene, und täglich wurden Leichenhaufen vor den Baracken gestapelt – hauptsächlich wegen Typhus, schlechter Verpflegung und schlechter Behandlung.
  3. Von dort aus wurden wir im Februar 1942, als die Quarantäne zu Ende war, nach Wustrau versetzt. Das war ein Dorf, wo es ein Lager für französische Kriegsgefangene gab. Wustrau im Kreis Neuruppin. Da waren vier Baracken mit Stacheldraht abgesondert.
  4. Dieses Lager unterstand dem Ministerium für die besetzten Ostgebiete. Da war man nach Nationalitäten aufgeteilt. In einer Baracke waren Russen und Ukrainer. Die zweite Baracke war für Muslime, vorwiegend Tataren.
  5. In der dritten Baracke waren Russlanddeutsche. In der vierten Baracke befanden sich die Küche und Kaserne der Wächter. Sie war klein. Was soll ich da sagen?
  6. Später wurde erzählt, dass das MGB Wustrau als eine Schule für antisowjetische Agenten und Propagandisten geführt habe. Für die Russlanddeutschen gab es da überhaupt keine Schule, da bekam keiner irgendeine Ausbildung. Da gab es nicht einmal Räume für eine Ausbildung.
  7. Das waren Baracken mit vier Räumen, jeweils mit 20 Leuten voll besetzt, insgesamt waren es 80. In jedem Raum gab es zwei Hocker und sonst gar nichts. Jeden Morgen gab es einen Appell. Jeder Stubenälteste meldete dann die Anzahl der Leute, die bei ihm wohnten. Nach dem Appell wurden Lieder gesungen. Viele (Russland)deutsche konnten kein Deutsch und sangen daher russische Volkslieder.
  8. Ich freundete mich dort mit Kostja an, einem sowjetischen Militärtechniker. Er war ein Supertyp, vier Jahre älter als ich. Er gab mir seine Wattejacke, damit ich meine Beine wärmen konnte.
  9. Er wusste, dass ich am Bein verletzt bin. Das war eine Freundschaft… In meinem langen Leben hatte ich zwei Freunde, einer von ihnen war Kostja.
  10. Von Wustrau wurden wir nach Schwarzsee II gebracht. Das war auch ein Lager bei demselben Ministerium. Da gab es auch keine (antisowjetische) Schule, da war der Lehrer Anton Link, das ist sein echter Name.
  11. Der Lehrer war schon alt, um die 60. Er trug ständig braune SA-Uniform. Und noch ein junger Lagerchef, Fritz Andresen. Der Lehrer stellte fest, wer kein Deutsch konnte, und gab ihnen Deutschunterricht.
  12. Mich setzte er ein, um einzelne Worte ins Russische zu übersetzen, die er selbst nicht erklären konnte. Einer von uns war da Kleinerman. Er behauptete, er wäre in einem Waisenhaus gewesen und sei ein Deutscher. Er sah aber einem Juden ähnlich.
  13. Und alle Russlanddeutschen rückten ihm zu Leibe: „Sag die Wahrheit, du bist ja…“ Er wurde einmal zur Gestapo geholt und dann zurückgebracht, es wurde nichts ermittelt. Später, als ich schon bei Berlin wohnte, traf ich die Leute, mit denen ich in Schwarzsee zusammen war. Sie sagten: „Er wurde nun wieder zur Gestapo geschickt.“
  14. Man schickte eine Anfrage über meinen Vater ans Ministerium, man suchte nach meinem Vater. Sie hatten (über ihn) in meinem Lebenslauf gelesen.
  15. Und es kam die Antwort aus Danzig: „Hans Vogeler kommt in keinem Geburtsregister vor. Karl Vogeler war hier weder gemeldet noch beschäftigt.“ Am Schluss stand aber: „Die Auskunft erfolgt ohne jede Gewähr.“
  16. Und das hat mir den Kopf gerettet. Keine Gewähr, das hat meinen Kopf gerettet: Gegen mich wurden keine Maßnahmen ergriffen, ich wurde nicht zur Gestapo geschickt. Danach war ich nicht mehr im Lager, sondern bei Berlin.