Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Plötzlich erhielt ich eine Vorladung der Volksdeutschen Mittelstelle für den 17. Mai 1944 nach Premnitz – zur Durchschleusungskommission, so stand es da. Ich sollte um die und die Uhrzeit erscheinen.
  2. Ich fuhr zu Kostja, er arbeitete schon bei Siemens in Berlin. Kostja war Radioingenieur. Kostja hatte keine Vorladung erhalten und konnte nicht erklären, warum ich vorgeladen wurde. Ich dachte: „Sie hatten wohl nichts mitbekommen von meiner Korrespondenz mit den Polizeistellen in Danzig und Königsberg, sonst…“
  3. Ich verstand nicht, was der Grund dafür war, und verstehe das immer noch nicht. Wer hatte die Vorladung veranlasst? Das konnte nicht einfach so geschehen, jemand musste das angeordnet haben. Ich fuhr am 16. über Rathenow hin.
  4. Ich kam nach Premnitz, ich war auf dem Hof und sah wenige Leute. Ich ging zu ihnen, alle Männer waren Russlanddeutsche. Einer war ein Witzbold und erzählte etwas, sein Freund stimmte zu und lachte. Plötzlich sagte der Mann: „Vor einigen Tagen wurde hier ein Jude entlarvt. Er sah gar nicht jüdisch aus und war nicht beschnitten.“
  5. Wie hatte man ihn entlarvt? Ich ließ mir nichts anmerken, ich war ja unter Fremden. Ich ging ein Stück zur Seite und dachte: „Was soll ich machen? Laufen? Aber wohin? Ich bin ja nicht im Urwald. Wo kann ich in Deutschland ein Asyl finden, wo bei jemandem übernachten?“
  6. Wie ich das (in meinem Buch) geschrieben habe, war es mir klar: Niemand kann und will mir helfen, ich muss hin; wer weiß, (wie das endet). Ich beschloss hinzugehen. Gleich am 16. ließ ich mich registrieren und erhielt Bettwäsche. Ich übernachtete da, und am nächsten Morgen ging es der Reihe nach.
  7. . Die Baracke bestand aus mehreren Räumen, in jedem standen zwei oder drei Tische, an jedem Tisch saß eine Frau oder ein Mann. Sie stellten Fragen und machten Notizen. Ich kam zu einer Frau, vor ihr lag ein sowjetisches Adressbuch – sogar das hatten sie.
  8. Sie fragte, woher ich stamme. „Aus Charkow.“ – „Die Adresse?“ – „Die Puschkinskaja Straße 73.“ Das war die Uni-Adresse. Meine eigene Adresse wusste ich nicht mehr, ich wohnte ja wenige Monate da und wurde dann eingezogen. Ich war Student und wohnte zur Untermiete.
  9. Ich wohnte nur anderthalb Monate da, sogar weniger. Ich sagte: „Puschkinskaja…“ Sie fand sie und fragte: „Welche Straße ist die nächste?“ Ich sagte: „Bassejnaja“, das war die einzige Straße, die ich noch kannte.
  10. Auf dem Weg zur Uni hieß die vorletzte Haltestelle „Bassejnaja“, danach kam die „Puschkinskaja“. Ich sagte „Bassejnaja“, sie rief vor Freude: „Ja, Sie haben Recht!“
  11. Ich musste dann zum Arzt. Ich dachte: „Das ist mein Ende. Der Arzt wird meine Narben untersuchen und mich bitten, die Unterhose auszuziehen.“ Vor der ärztlichen Untersuchung musste man alles ausziehen, nur die Unterhose anlassen. Ich hatte nur die Unterhose an und hielt meine Mappe mit allen Papieren, ich trug sie immer bei mir.
  12. Ich kam und legte die Mappe auf den Tisch. Der Mann vor mir ging heraus, ich kam herein. Rechts im Raum stand ein langer Tisch, da saß ein Arzt in Weiß und neben ihm ein SA-Mann – „Sturmovik“ auf Russisch. Er trug eine hellbraune Uniform, war ein junger Mann, hochgewachsen wie ich, vielleicht sogar größer.
  13. Er nahm mir die Mappe ab, obwohl er links saß. Er öffnete die Mappe und sagte: „Ach, ich bin auch Student! Ich habe auch Jura studiert!“ Wer hat mir diesen Jura-Studenten geschickt? Und wir kamen ins Gespräch: „Wer hat bei euch studiert? Was habt ihr studiert? Und das Römische Recht, warum habt ihr es nicht studiert?“ Ich sagte: „Wir hatten es als Teil der allgemeinen Rechts- und Staatsgeschichte. Wir liebten das Römische Recht, wir studierten ein ganzes Jahr Latein.“
  14. Währenddessen öffnete ein alter Mann schon zum zweiten Mal die Tür. Er war auch nackt und fror. Und der Mann führte das Gespräch mit mir weiter. Der Arzt mischte sich ins Gespräch ein: „Haben Sie doch Mitleid mit ihm. Schauen Sie ihn an, er hat eine Gänsehaut. Und ich muss noch seine Narben untersuchen.“
  15. Er machte Notizen über meine Narben und genierte sich nach so einem intellektuellen Gespräch, zu mir zu sagen: „Lassen Sie die Unterhose herunter.“ Ich habe sie nicht heruntergelassen, er hat darum nicht gebeten. Wer hat das so für mich gefügt?
  16. Ich erhielt ein grünfarbenes Dokument darüber, dass ich von der Kommission der Volksdeutschen Mittelstelle untersucht wurde. Unten war ein rundes Siegel. Und da wurde die Frage über meine Einbürgerung in Deutschland aufgeworfen. Ich musste schwer nachdenken: Die „Einschläge“ kamen nun wohl von der anderen Seite.