Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich ging zur Schule, in deren Nähe ein Waisenhaus war. Eingeschult wurde ich 1945, auf der 2. Mittelschule in Smolensk. In der ersten Klasse war ich schon acht, der Krieg war noch nicht zu Ende, 1945.
  2. Wir gingen in ein großes Hospital, um ein Konzert zu geben. Ich fand später das Gedicht „1943. Hospital in Omsk“ von Roshdenstwenskij: „Die Flure sind trocken und empfindlich hell / Die alte Pflegerin flüstert / Mein Gott, wie klein sind die Artisten.“ Wir waren solch kleine Artisten.
  3. Dichtung für mich entdeckt? Während des Krieges (noch) hatte Mama mich in den Kindergarten gebracht, ich war sieben und klein, ging als fünfjährig durch. Ich war mal an Angina erkrankt, ich habe das öfters. Der Kindergarten war aus der Stadt rausgezogen und ich lag da. In der Zeit mussten alle Kinder ein Gedicht auswendig lernen.
  4. Kurz gesagt, im Bett lernte ich 30 verschiedene Gedichte auswendig. Als ich in die erste Klasse kam, fragte unsere Lehrerin: „Kinder, wer kann ein Gedicht auswendig?“ Ich hielt mein Händchen hoch und begann Gedichte vorzutragen, vielleicht alle 30. Ich trug die ganze Stunde vor, und alle waren natürlich erstaunt. Ich lernte einfach die Gedichte für alle Kinder.
  5. So ging ich mit in das Hospital (in Smolensk), das erste Mal. Ich trug Kleidung aus der amerikanischen Hilfe. Amerika schickte Kleidung, weil wir nichts zu tragen hatten. Das waren ein Kostümchen mit vielen Taschen, eine Hose und (eine Jacke). Ich weiß noch, wie wir mit der Lehrerin hereinkamen.
  6. Da war ein kleines Zimmer, in dem ein Mann lag, ganz im Verband. Wir begannen das Konzert, es wurde gesungen usw. Dann war ich an der Reihe, ich trug das Gedicht über einen Jungen aus Leningrad vor.
  7. Ich habe es Ihnen schon vorgetragen, ich wiederhole es (jetzt) nicht. Ich trug das Gedicht vor. Und der Verwundete war wohl ein Leningrader, er gab einen schrecklichen Laut von sich und begann zu weinen.
  8. Das Gedicht hat folgenden Inhalt: Papa ist gefallen, Mama liegt kraftlos da, und der Junge wirft sein Spielzeug ins Feuer, um Mama zu wärmen. Dann stirbt Mama und er kann schließlich überleben. Stellen Sie sich das Bild vor: Ein Kind trägt es vor so gut es kann.
  9. Die Reaktion (des Mannes) erschreckte alle, die Lehrerin lief als Erste hinaus. Hinter ihr die ganze Gruppe. Auf dem Boden lag Brennholz, die Holzscheite fielen zusammen und wir konnten nicht raus.
  10. Er zuckte und rief: „Holen Sie das kleine Mädchen zurück!“ Die Lehrerin überwand den Schock und führte mich zu seinem Bett. Das werde ich nie vergessen, (denn) wir alle waren ja hungrig…
  11. Alles, was in seinem Nachttisch war, Zwieback und Zucker, steckte er mir in meine Täschchen. Und das war mein erstes Honorar – für ein Konzert im Hospital.