Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Nach der Ankunft in diesem sibirischen Dorf Konstantinowka, als ich das Leben da kennenzulernen begann, war ich einfach total erstaunt. Ich kam in die Schule und die Lehrerin brachte mich in die Klasse: „Erwin Nagy wird unsere Klasse besuchen.“ Sie können sich vorstellen, was in der Schule in der Pause los ist: Lauferei und Lärm.
  2. Ich komme also in der Pause aus dem Klassenzimmer heraus und auf dem Flur ist es ganz still. Alle Kinder stehen da eng zusammen und schauen mich an, ohne ein Wort zu sagen. Ich versuche irgendwie ein Gespräch anzufangen, dieses Anstarren zu beenden – aber nein, es klappt nicht. Also, es vergingen etwa zwei Wochen, bis die Kinder aus meiner Klasse mit mir sprachen und mich vor den Anderen schützten: „Was starrt ihr ihn so an? Lasst ihn in Ruhe!“ – „Und warum sind deine Knie nackt?“ (fragten sie).
  3. Shorts waren da absolut unbekannt. Mich erstaunten einige Häuser total, gemacht waren sie aus… Gras mit Erde, in Sibirien nannte man es „Plast“. Aus solchen Platten wurden Häuser gebaut mit einem Zimmerchen. Also eine Erdhütte, ein Lehmboden, ein großer Ofen und sonst nichts.
  4. Und manchmal eine Ikone in der Ecke. So war die Lebensart. Das entsprach keineswegs den Erzählungen und Ideen, die mir als Kind beigebracht wurden. Dort gab es eine Familie Walko, drei Brüder. Ich war mal bei ihnen – ich weiß nicht mehr warum. Der jüngste Bruder Petka saß auf der Bank, während der mittlere Paschka gerade aus dem großen Ofen herauskroch.
  5. Er hatte da drin Brennholz gestapelt, um es dann anzuzünden. Er sagte: „Ich koche Kartoffeln zum Mittagessen.“ Petka fragte: „Wie viele für jeden?“ – „Je zwei für uns und vier für Mama.“ Also, was für einen Eindruck macht das? Die Jungen hatten überhaupt keine Ahnung vom Leben und nicht einmal von dem in Moskau. Sie fragten mich: „Stalin, geht der eigentlich zur Toilette?“
  6. Sie drückten das allerdings anders aus. Sie nahmen ihn nicht wie einen Menschen wahr. Und sie nahmen ihn nicht als etwas Gutes wahr. Die Alten sagten alle offen, das Leben in Sibirien wäre vor der Revolution besser gewesen. Im Kolchos arbeiteten vorwiegend Frauen, denn alle Männer waren an der Front. Und wir arbeiteten auch mit, ab dem Alter von zehn Jahren.
  7. Wir gingen aufs Feld, sammelten Ähren oder ernteten etwas. Ich kam mit elf dahin und mit zwölf arbeitete ich schon offiziell. Als ich 13 war, kam eine topographische Expedition ins Dorf, die mich als Träger aufnahm.
  8. D.h., ich ging mit dem Vermessungsstab vor dem Topographen, stellte ihn auf, sie machten Notizen und erstellten Karten. Das war der erste Lohn in meinem Leben. Denn für die Arbeitstage im Kolchos bekam ich praktisch nichts. Das Leben in diesem Dorf zeigte mir ganz klar, was ein sowjetisches Kolchosdorf darstellt.