Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Im zweiten Studienjahr tauchte an unserem Institut ein neuer Student auf... Später wurde klar: Bei der Studienzulassung drei Jahre vorher hatte er einige persönliche Angaben verheimlicht. Er hatte nicht mitgeteilt, dass seine Eltern repressiert waren. Auf irgendeine Weise erfuhr die Personalabteilung davon. Er wurde dann ausgeschlossen und verpflichtet, mindestens ein Jahr in einer Fabrik zu arbeiten. Er musste ein gutes Arbeitszeugnis bekommen und durfte erst dann wieder Komsomolmitglied und Student werden. Also hatte er diesen Weg hinter sich gebracht und tauchte an unserer Fakultät auf.
  2. Dabei war er zunächst an der Fakultät für Radiotechnik gewesen, ging dann (aber) nicht zurück, sondern an unsere Fakultät für Elektromechanik. Im Sommer, als ich das erste Studienjahr abschloss, traf ich bei der Laienkunst oft Tanja Kartaschowa, Studentin des dritten Studienjahres.Einmal sah ich, dass sie sehr verstimmt ist, und fragte, was der Grund sei. Sie sagte: „Weißt du, bald beginnt die Spezialisierung, dabei muss man einen langen Fragebogen ausfüllen. Ich habe ein Problem: Bei der Studienzulassung habe ich nicht geschrieben, dass meine Eltern verhaftet sind. Und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll.“
  3. Da ich in dem Fragebogen erwähnt hatte, dass meine Eltern verhaftet (verfolgt) worden waren, fühlte ich mich ziemlich frei. Ich sagte: „Tanetschka, ich rate dir, das selbst zu sagen, bevor ein anderer das meldet. Vielleicht geht es für dich glimpflich aus.“ Sie wollte noch einen Ratschlag von jemandem einholen, der sich in der Sache auskannte. Dann ging sie ins Komsomolbüro und sagte, dass ihre Eltern verhaftet seien, und dass sie das bei der Studienzulassung verheimlicht hätte.
  4. Das Komsomolbüro beschloss, eine Fakultätsversammlung einzuberufen, um ihre Angelegenheit zu erörtern und sie auf jeden Fall zu rügen. Dann kam die Fakultätsversammlung extra zu diesem Thema, etwa 600 Leute waren anwesend. Zu Beginn wurde sie (Tanja) zum Rednerpult zitiert, um zu berichten. Sie tat es und wurde dann gefragt: „Wer wusste noch, dass du das verheimlicht hast?“ Sie nannte vier Leute aus ihrem Studiengang und mich.
  5. Und sie ergänzte: „Erwin Nagy war der Einzige, der gesagt hat, es wäre besser, wenn ich selbst davon erzähle.“ Danach wurden wir alle dahin zitiert: vier aus ihrem Jahrgang und auch ich. Ich stellte mich ans Rednerpult und erzählte, Tanja hätte es mir erzählt und ich ihr einen Rat gegeben.
  6. Und noch Folgendes: „Da ich selbst im Fragebogen so eine Stelle habe, verstehe ich die Psychologie der Menschen, die so ein Unglück haben, gut. Ich denke, wenn es unter den hier Anwesenden Leute gibt, die so etwas im Fragebogen verheimlicht haben, dann ist jetzt auf der Versammlung der beste Zeitpunkt, darüber zu erzählen.“
  7. Danach redete Igor Rumjanzew, Student unseres Jahrgangs. Er begann mit dem Satz: „Ich habe die Komsomolorganisation betrogen.“ Er war Mitglied des Komsomolbüros der Fakultät und sagte, er hätte bei der Studienzulassung etwas über sich verheimlicht. Jetzt rede er offen darüber.
  8. Da er ein hohes Ansehen hatte und ein sehr anständiger Mensch war, bin ich absolut sicher: Es waren nicht meine Worte und mein Aufruf, die die Anwesenden beeinflussten. Es war die Tatsache, dass Igor Rumjanzew persönlich darüber erzählte. Daraufhin kamen die Leute zum Rednerpult, einer nach dem anderen: „Ich habe verheimlicht… Ich habe nicht gesagt… Ich habe den Fragebogen nicht (richtig) ausgefüllt…“
  9. Insgesamt waren es 22 Personen. Und ich bin sicher, wenn das nicht an unserem Institut, sondern an einem anderen gewesen wäre, wären all diese Leute geflogen oder irgendwie diskreditiert worden. In diesem Fall… Das Komsomolbüro war völlig verblüfft und beschloss: „Es hat keinen Sinn, jede persönliche Angelegenheit auf der Versammlung zu erörtern.“
  10. Sie beschlossen die Versammlung zu beenden und mit allen, die im Fragebogen etwas verheimlicht hatten, persönlich im Büro zu sprechen. Die Leute wurden dann streng verwarnt, zum Glück warf man jedoch keinen hinaus. Alle schlossen wohlbehalten das Studium ab.