Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Was mein Weggehen aus dem Konstrukteursbüro anbelangt, so gab es 1961 dort leider einen Chefwechsel. Der Grund war: Der Organisator und Leiter (des Büros) war schon im Rentenalter und wurde im Ministerium sarkastisch angesprochen: „Du gehst noch nicht…?“ An seine Stelle trat ein junger Mann, der wohl Beziehungen hatte. Und es war gerade in der Zeit, als ich mich für meine Verwandten und meine Herkunft interessierte.
  2. Ich wusste, dass mein Vater aus Ungarn stammte und Laszlo Moholy-Nagy sein Bruder ist. Wir hatten aber keinen Kontakt. Ich wusste, dass der Bruder die Tochter Hattula hat, etwa in meinem Alter. Zu der hatte ich (aber) auch keinen Kontakt. Ende der 1970er-Jahre, genauer 1976, interessierte ich mich für eine Reise nach Ungarn.
  3. Ein Freund von mir sagte: „Ich kenne einen ungarischen Oberst. Der hat in Moskau studiert und kann hervorragend Russisch. Er kommt bald und ich mache euch bekannt, er wird dich dann einladen.“ Die Bekanntschaft mit dem Oberst kam zustande. Er sagte: „Ich soll Sie einladen? Nennen Sie ihren Nachnamen, ich werde Ihre Verwandten ausfindig machen und die werden Sie dann einladen.“
  4. Ich entgegnete: „Ich habe aber keine Verwandten in Ungarn oder weiß nichts davon. Und mein Name ist so verbreitet, dass es sehr schwer ist, jemanden zu finden.“ – „Können Sie einen Anhaltspunkt nennen, wo es klar ist, dass es Ihre Verwandten sind?“ Ich sagte: „Ja, wenn jemand sagt, er sei mit Laszlo Moholy-Nagy verwandt, ist er auch mit mir verwandt.“
  5. Das war etwa im Mai und im Dezember erhielt ich einen Brief vom ältesten Bruder meines Vaters, Jeno. Er verbrachte sein ganzes Leben in Ungarn. Und ich ging natürlich zur „Sonderabteilung“ und berichtete über die „neue“ Verwandtschaft. Ich bat mir mitzuteilen, ob meine Arbeit einer möglichen Einladung hinderlich sei: „Wenn meine Arbeit es nicht erlaubt, muss ich die Einladung absagen.“ Eine Woche später wurde ich da vorgeladen: „Kein Problem, du kannst fahren, wohin du willst.“
  6. Nun, den Briefwechsel führten wir (Verwandten) auf Englisch, denn ich konnte kein Ungarisch und sie kein Russisch. Etwa 1977 bekam ich dann eine Einladung. Um damals auszureisen, brauchte man ein Arbeitszeugnis, die Zustimmung des Gewerkschafts- und Parteikomitees … und des Direktors. Alle (Unterlagen) wurden signiert, dann musste der Chef sie unterzeichnen.
  7. . Ich kam mit dem Arbeitszeugnis zu ihm und sagte: „Unterzeichne“ – unser Verhältnis war gut. Er, der neue Chef, schaute es sich an und: „Nein, ich unterzeichne das nicht.“ – „Warum?“ – „Jetzt ist es nicht angesagt, Juden ins Ausland ausreisen zu lassen.“ Ich fragte: „Ist das dein Ernst?“ – „Durchaus.“ Ich musste da (also) weg. Ich weiß nicht, was er sich ausrechnete. Mir war aber ganz klar: Ich bin Moskauer und habe ziemlich viele Kontakte und Bekannte.
  8. Ich suchte eine andere Arbeitsstelle und bekam etwas später einen Anruf zu Hause: „Erwin, hier ist Peschkow.“ Peschkow war Direktor des Forschungsinstituts der Kabelindustrie. „Ich habe gehört, du kündigst. Ich nehme dich.“ – „Und du weißt, warum ich gehe?“ – „Natürlich, ich weiß alles.“ – „Und was meinst du dazu?“ – „Nun, nach einem Arbeitsjahr werde ich das Arbeitszeugnis unterschreiben und du wirst in dein Ungarn fahren. Früher geht es nicht, mindestens ein Jahr musst du (erst) arbeiten.“ – „Gut.“
  9. Ich stellte dann einen Antrag bei meinem Chef: „Ich bitte mich zu entlassen wegen des Arbeitswechsels zum Forschungsinstitut.“ Er las den Antrag und sagte: „Gehst du zum Forschungsinstitut?“ – „Ja.“ – „Ich werde dein Arbeitszeugnis unterzeichnen, dann kannst du in dein Ungarn fahren.“ Ich sagte aber: „Nein, es gibt kein Zurück. Peschkow hat mir im schwersten Moment geholfen und ich bleibe nicht hier.“
  10. Im Forschungsinstitut war es (von der Arbeit her) wesentlich langweiliger, dafür fuhr ich ein Arbeitsjahr später nach Ungarn. Und ich nahm Kontakt zur Tochter von Laszlo Nagy auf und diese Verbindung besteht immer noch. Übrigens arbeitet der Enkel von Laszlo Moholy-Nagy heute in Köln, er ist Direktor der Kunstmesse (Art Cologne), Daniel Hug.