Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Sechs Monate später war ich kräftig genug, um entlassen zu werden. Aber meine Mutter, die Tante und Schwester wohnten damals schon in einem Gebiet im Süden, im Kolchos Karabulak.
  2. Nun passierte mir wieder etwas Interessantes. Ich wurde entlassen, aber bis zum Wohnort meiner Mutter waren es 800 Kilometer. Ich hatte einen Passierschein vom Evakuierungspunkt erhalten, konnte aber keinen Fahrschein kaufen. Ich bat eine Zugschaffnerin, mich mitzunehmen, wurde aber schroff abgewiesen.
  3. Eine andere wies mich auch ab, aber eine dritte hatte Mitleid mit mir. Sie sagte zu mir: „Steig in den fünften Wagen, da sind Soldaten, die an die Front fahren. Sie nehmen dich mit.“ Und tatsächlich nahmen sie mich mit.
  4. Sie sahen, dass ich einen Verband am Kopf trug, da waren Blutflecken zu sehen. Ich erzählte ihnen die Wahrheit über mich. Ich bin der Meinung, dass man immer ehrlich sein sollte. Ich lebe schon 82 Jahre und mein Motto ist: Sei ehrlich und das Glück wird auf Deiner Seite sein.
  5. Sie nahmen mich mit, gaben mir amerikanisches Büchsenfleisch zu essen. Ich bekam noch dazu 50 oder 100 Gramm Wodka. Dann machten sie einen Platz frei, breiteten dort einen Pelzmantel aus, und ich legte mich dort hin, um zu schlafen.
  6. Sie fragten mich noch: „Wo willst Du aussteigen?“ Ich sagte: „An der Station Mankent.“ – „Gut, mach Dir keine Sorgen. Wir werden Dich rechtzeitig wecken.“ In der Nacht hörte ich einen Streit. Es kam ein Kontrolleur und wollte mich als Schwarzfahrer aus dem Zug verweisen.
  7. Die Soldaten fuhren an die Front, sie hatten keine Angst mehr. Sie tranken, sie waren zu allem bereit. Und sie wollten ihn aus dem fahrenden Zug werfen. Er ging dann schnell weg. So kam ich zur Station Mankent.
  8. Ich war nun in Mankent, musste aber noch 22 Kilometer weiter zum Aul Karabulak zu Fuß gehen. Es war minus 22 Grad, windig und ich ging (mit meinem Sack) durch die Steppe. In dieser Zeit fuhr ein Pferdewagen zum Markt in Karabulak, auf dem Kutschersitz saßen ein Mann und eine Frau. Hinten am Wagen ragte so ein Holzteil hervor, ich weiß nicht, wie man es nennt.
  9. Ich dummer 12-jähriger Junge wollte mich dort festhalten, aber das konnte man nicht 22 Kilometer durchhalten. Der Mann bemerkte mich und schlug mich mit der Peitsche und zwar so heftig, dass ich rote Streifen am Körper bekam. So erlebte ich an einem Tag Gutes und Böses.
  10. Ich kam zu Fuß nach Karabulak, wusste aber nicht, wo meine Mutter wohnte, in welchem Haus. Es war schon dunkel, ich ging zum Markt. Plötzlich hörte ich eine Stimme, ich erkannte meine Mutter.
  11. Ich rief laut: „Mama!“ Ich wusste nicht, wo sie war. Wir umarmten uns und weinten. Sie kaufte mir… wie heißt das denn, eine große Pirogge oder so, ich aß sie auf und wir gingen nach Hause.