Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir in Charkow lebten, wohl einige Monate. Denn Charkow wurde bald auch eingenommen. Wir fuhren in umgebauten Viehwagen fort. Ich weiß ganz genau, bei Luftangriff liefen wir ins Feld, der Zug hielt. Danach liefen alle zurück. Mir ist in Erinnerung, wie Mama sagte: „Machen Sie ein bisschen Platz, das Kind legt sich kurz hin“ – so viele Leute waren im Wagen.
  2. Ich war etwas krank, und nach dem Schlaf war es wieder gut. Unterwegs bei einem Halt tauschte Mama Sachen gegen Lebensmittel. Einmal kauften wir Piroggen mit einer Kräuterfüllung und zogen uns eine Vergiftung zu. Alle Leute im Zug waren verlaust, hatten die Krätze. Das war einfach schrecklich. Wir kamen irgendwie nach Taschkent, wo eine Verteilstelle war. Unsere Familie wurde Buchara zugewiesen.
  3. Wir kamen (aber) in Buchara nicht an. Wir stiegen in den uns angewiesenen Zug ein – mit dem Sack und den Sachen, die übrig waren. Ich, mein Bruder und Mama saßen im Einstiegsbereich. Im Wagen waren evakuierte polnische Juden, die uns aus irgendeinem Grund nicht in den Wagen ließen. Wir saßen eine Weile im Einstiegsbereich.
  4. In Krasnoarmejskaja wollte meine Mutter aussteigen und etwas kaufen. Sie hielt ihr Handtäschchen mit den Papieren und wurde bei langsamer Fahrt heruntergestoßen, stürzte und erlitt eine Kopfwunde. Das Täschchen, das ganze Geld und die Papiere waren verschwunden. Wir mussten dann an der Station Krasnoarmejskaja bleiben.
  5. Dort gingen wir wahrscheinlich zur Polizeistelle; wir standen vor einem Schalter, und uns wurden nach unseren Aussagen neue Papiere ausgestellt. Ich war wieder krank – die Ruhr, 40 Grad Fieber. Dann traf meine Mama Bekannte aus unserer Gegend. Sie brachten uns bei sich in einem Durchgangszimmer in Dschisak unter. Bis 1942 lebten wir in dieser Stadt in Usbekistan.
  6. Meine Mama wollte sich aber den Verwandten anschließen. Sie wusste, dass die andere Tante, Wera, mit ihrer Textilfabrik aus Charkow nach Frunse evakuiert werden sollte. Meine Mama war nicht besonders gebildet, und den Brief nach Frunse schrieb mein Bruder.
  7. Und das Glück blieb unserer Familie treu: Er hatte eine falsche Adresse geschrieben, sodass der Brief an Tante Wera nicht zugestellt werden konnte. Ein Bekannter von ihr sah den Brief zufällig und brachte ihn ihr. Tante Wera schrieb eine Antwort, und Anfang 1943 zogen wir in die kirgisische Hauptstadt Frunse um, wo die Arbeiter der Textilfabrik lebten.
  8. Wir wohnten zunächst in einem Klubhaus. Tante Wera war Leiterin der Personalabteilung, und die Chefs hausten auf der Bühne. Die anderen Arbeiter wohnten unten im Klub. Zunächst waren sehr viele Leute da, ich kann mich nur an Kinder erinnern. Wir blieben alleine da und machten was wir wollten. Da war ein Junge, der die Eier mit einem Hammer zerschlug. Er war so ein Spitzbube, ich habe seinen Namen vergessen.
  9. Etwas später kamen die Leute aus dem Klubhaus in die neugebauten Baracken. In der Baracke wohnten wir zu sechst in einem kleinen Zimmer. Natürlich konnten nicht alle im Bett schlafen und so passten wir uns daran an.