Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Mama hielt die ganze Kriegszeit über meinen Vater für tot. Sie stellte natürlich Anfragen bei den Behörden, um eine Bescheinigung darüber zu bekommen. Was ich damals nicht wusste: Ohne Bescheinigung über seinen Tod bekam man keine Rente. Mama erhielt die Antwort: „Vermisst“. In diesen Jahren zahlte der Staat keine Rente für Vermisste; man dachte, der (Vermisste) lebt noch oder ist ein Verräter. Und als der Krieg 1945 zu Ende war… Meine Mama hatte nur einen Traum. Sie sagte: „Ich weiß, mein Mann ist gefallen. Ich wünsche mir, dass er von einer Kugel getötet wurde, nichts anderes.“
  2. Wir fuhren nach Charkow, weil dort die Tante war, bei der wir während der Evakuierung (zuerst) gewohnt hatten, und noch Mamas Bruder. Wir schliefen bei den Verwandten, mal hier mal dort. Wir hatten keine Unterkunft, es war eine fremde Stadt. Mama bezog eine geringe Invalidenrente, zunächst arbeitete sie nicht, wir lebten wohl von ihren Ersparnissen.
  3. Sie wollte dann nach Krementschug gehen, wo sie noch den Bruder Naum und eine ältere Schwester hatte. Sie wollte alles über den Vater erfahren. Es war eine wundersame Geschichte: Sie fand eine junge Frau, die in diesem „Jägerbataillon“ beim Volksaufgebot gewesen war, mit Papa zusammen. Sie waren 18 Mädchen gewesen und mein Papa, der Klassenlehrer. Vielleicht waren auch andere Leute dabei.
  4. Mein Vater wurde schon im ersten Gefecht verwundet, und 16 Mädchen fielen. Zwei überlebten und eines sagte: „Komm, wir schauen, ob Boris Abramowitsch noch lebt.“ Doch er war schon tot. Bald kam noch ein Mädchen um, so überlebte eine Einzige. Sie sagte meiner Mutter: „Ich weiß, wo das Gefecht war.“ Meine Mutter und ihr Bruder gingen dahin. Die Frau war wohl auch dabei, Einzelheiten weiß ich nicht, weil ich noch ein Kind war.
  5. Sie gingen durch das Dorf Rakitnoje, die Frau zeigte: „Hier war das Gefecht, hier sind alle diese Menschen gefallen.“ Ein Bauer holte Papiere (meines Vaters) vom Dachgeschoss. Ich habe sie hier, ich kann sie jetzt oder später zeigen. Das waren sein Gewerkschaftsausweis und unser Familienfoto, zerknittert. Mama sagte: „Das ist mein Mann!“ Der (Bauer) bezeugte im Kriegskommissariat, dass mein Vater da gefallen war. Er sagte: „Ich kann das Feld zeigen, wo ich ihn begraben habe.
  6. Ich konnte (damals) nicht schreiben, dass er Boris Sterngarz hieß. Ich habe einen Stein aufgestellt und geschrieben: Lehrer einer Schule in Krementschug.“ Denn im Gewerkschaftsausweis stand: Pädagoge. Er (der Bauer) sagte weiter: „Als unsere Truppen kamen, Krementschug wurde 1943 befreit, hat man das Feld umgepflügt und den Stein weggeräumt.“ Und ich dachte die ganze Zeit, mein Vater sei in einem Grab für unbekannte Soldaten begraben.
  7. Meine Mama erhielt aber eine Bescheinigung des Kriegskommissariates: „Ihr Mann war Volksaufgebotangehöriger und fiel am 3.9.1941.“ Sie erhielt dann die Rente sogar rückwirkend für die letzten zwei Jahre, für meinen Unterhalt. Die Sache spielte auch in meinem Leben eine große Rolle, weil ich die Tochter eines Gefallenen war. Das brachte Vorteile und ich dachte sehr oft an meine Mama, die das geschafft hatte.