Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich kann mich gut erinnern, wie ich zur Schule ging. In der ersten und zweiten Klasse wurde auf Jiddisch unterrichtet. Wie überall lernten wir Mathe, Physik und Chemie. Und vier Sprachen: Jiddisch, Ukrainisch, Russisch und Deutsch. Zweimal die Woche kam aus der deutschen Kolonie eine Lehrerin, sie gab Deutschunterricht.
  2. Nach der zweiten Klasse hieß es: Nun wird für alle auf Ukrainisch unterrichtet. Ich weiß nicht, wer dies beschlossen hat, ich war noch klein. Wir bekamen ukrainische Lehrbücher. Es war für uns kein Problem, Ukrainisch konnten wir genauso frei wie Jiddisch.
  3. Früher gab es sogar Kinderzeitschriften auf Jiddisch. Sie verschwanden dann, wir lasen die ukrainischen, das war kein Problem. Die Schullehrer, die vorher auf Jiddisch unterrichtet hatten, unterrichteten nun auf Ukrainisch. Einige Lehrer sagten manchmal aus Versehen auf Jiddisch: „Mosche, was machst Du?“ Dann sagten sie dasselbe auf Ukrainisch, alle Kinder lachten. Für viele Menschen bedeutete das aber Unglück. Die Synagoge wurde geschlossen und in ein Klubhaus umgebaut. Es hieß: „Religion ist Opium für das Volk”.
  4. In der Stadt ging ich in die 4. Klasse und da spürte ich (den Antisemitismus). Ich war da alleine und konnte mich nicht wehren. Die anderen waren größer und stärker. Sie beschimpften mich, schrieben „Shid” auf meine Schulhefte. Das war ganz übel in Kriwoj Rog.
  5. Meine ältere Schwester hat dann geheiratet, sie hatte eine Wohnung in Stalino, heute Donezk. Sie holte mich zu sich. Ich fragte sie mal: „Warum das?“ Sie meinte, ich solle Ukrainisch frei sprechen können. Eine Schullehrerin in Stalino sagte sogar einmal zu einem Schüler: „Haim ist zwar Jude, kann aber besser als Du die Gedichte von Schewtschenko rezitieren.”
  6. Das sollte mir später das Leben retten, weil ich sehr gut Ukrainisch konnte, noch besser als so mancher Ukrainer. Das alles verdanke ich meiner Schwester, sie arbeitete als Journalistin und schrieb auf Ukrainisch und Russisch. Sie brachte mir bei, wie ich zu reden und mich zu benehmen habe.