Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Dann begriff ich, dass ich frei bin und meine Kleidung wechseln muss. Ich trug nun die Lumpen drunter und die bessere Kleidung drüber, meine Hose war einigermaßen in Ordnung. Die Jacke hatte ich verkehrt getragen, außen sah sie nicht schlecht aus. Ich stieg von dem Strohhaufen herunter und sah ukrainische Jungs, so um die fünf Leute.
  2. Sie fragten mich: „Versteckst du dich auch?” Ich sagte ja. Ich wusste worum es geht, wir hörten, was die Ukrainer und Deutschen erzählten. Es war so: Als die Deutschen 1941 in die Ukraine kamen, warben sie junge Leute für die Arbeit in Deutschland an. Sie versprachen eine gute Ausbildung, gute Behandlung und gute Verpflegung.
  3. Viele wollten in so einem industriellen Land eine Ausbildung machen und gingen freiwillig nach Deutschland. Sie schrieben dann Briefe: Uns geht es sehr gut, alles ist ausgezeichnet. Dann kamen aber die Arbeitsinvaliden und schwangeren Frauen zurück. Die Mundpropaganda machte es in der ganzen Ukraine bekannt: Alles ist Lüge. In Deutschland zu arbeiten bedeutete Zuchthaus. Also, man musste sich verstecken, diese Jungs versteckten sich auch.
  4. Sie waren etwas besser gekleidet als ich, aber das war kein Problem. Und ich konnte tadellos Ukrainisch. Sie fragten, woher ich komme. Ich sagte: aus Sofijewka. Das war ein Kreiszentrum, wo besonders viele Razzien stattfanden, das wusste ich von den Einheimischen. Einer sagte: „Gleich kommt meine Schwester, sie bringt etwas zu essen.” Es kam eine junge Frau, und das Essen wurde an alle verteilt. Sie sagte, wir sollen uns nicht mehr in den Strohhaufen verstecken, die Polizisten durchsuchen sie und stechen mit langen Eisenstangen rein. Die Eltern rieten, sich woanders zu verstecken…
  5. Während des Krieges wurden viele ukrainische Dörfer zerstört. Aber nicht nur durch Kämpfe. Einige Panzersoldaten machten sich daraus einen Spaß… Unsere Häuser waren aus Lehm und Stroh gebaut, sie konnten 100 Jahre stehen, waren aber nicht fest. Die Panzer fuhren einfach durch die Häuser und brachten sie zum Einstürzen.
  6. Auf jedem ukrainischen Hof gab es einen Keller, um Gemüse für den Winter aufzubewahren. Wir versteckten uns in diesen Kellern. Wir kamen rein, die Decke wurde dann mit Schnee oder Stroh getarnt. Da wurde nicht einmal gesucht, weil die Häuser zerstört worden waren. Und noch ein Vorteil: Die Polizisten warnten ihre Verwandten vor den Razzien. Die Jungs wussten immer Bescheid, und ich war mit ihnen zusammen.
  7. / Hatten Sie Angst vor Verrat? / An mir? Aber warum, ich war ja genauso wie sie. Ich konnte Ukrainisch sogar besser als sie. Ich versuchte ein perfektes Ukrainisch zu sprechen. Man konnte mir nur die Hose runterziehen und feststellen, dass ich Jude bin. Sonst war es aber unmöglich.
  8. Als wir uns kennenlernten, nannte ich mich mit dem Namen des Jungen, mit dem ich die Schulbank gedrückt hatte: Wassilij Andrjuschtschenko. Ich konnte nicht Haim sagen, das ist ein jüdischer Name, da wäre alles klar gewesen. Mit diesem Namen lebte ich mein ganzes Leben.