Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Mir wurde dann eine Stelle im Institut für Akkumulatoren in Leningrad zugeteilt, wo ich drei Jahre abarbeitete. Drei Jahre vergingen… Ich machte mir damals keine Gedanken, ich dachte: Ich habe eine tolle Arbeit und gute Chefs im Institut für Akkumulatoren beim Akkumulatorenwerk in Leningrad.
  2. Dann wurde ich in die erste Abteilung gerufen, wo man mir sagte: „Geben Sie den Passierschein ab und gehen Sie zur Kasse, um das Geld zu erhalten. Ab morgen arbeiten Sie hier nicht mehr.“ Die Sache war die: Nach sowjetischem Gesetz durften junge Fachleute während der ersten drei Arbeitsjahre nicht entlassen werden. Als die drei Jahre vorbei waren, haben sie mich problemlos entlassen.
  3. Wie ich später erfuhr, geschah das, weil eine Mitarbeiterin an das Parteikomitee gemeldet hatte: „Bei uns im Institut arbeitet die Tochter eines Volksfeindes.“ Soviel zu den Menschen, es gibt verschiedene. Gute Leute geben dir ein Mittagessen und haben keine Angst, und das Gesindel schreibt Denunziationen. Ich wurde arbeitslos.
  4. Ich wurde (1951) arbeitslos und suchte dann nach Arbeit. Ich fuhr nach Moskau in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden – wenn nicht in Leningrad, dann anderswo. Ich ging von Ministerium zu Ministerium… Ich fasse mich kurz… Schließlich kam ich ins Ministerium für Bildung oder Volksaufklärung, wie es damals hieß. Ich zeigte mein Diplom, und man sagte mir: „Wir brauchen keine Chemielehrer.“ Ich fragte: „In der Sowjetunion braucht man keine Chemielehrer?“
  5. Sie (die Frau dort) sagte: „Wir sind das Ministerium der RSFSR.“ Ich entgegnete: „Zur RSFSR gehört ja ganz Sibirien. Ich bitte ja nicht um Arbeit in Moskau oder Leningrad.“ – „Ich sagte schon, wir brauchen keine Chemielehrer.“ Ich muss diesem Miststück eigentlich sehr dankbar sein, denn sie hätte mich dahin schicken können, wo sich die Fuchs und Hase gute Nacht sagen.
  6. Meine ehemaligen Kollegen beim Institut für Akkumulatoren (in Leningrad), zu denen ich Kontakt hielt, waren natürlich höher gestellt als ich. Sie sagten, ich würde beim Akkumulatorenwerk in Saratow aufgenommen. Und ich fuhr nach Saratow und wurde tatsächlich da eingestellt. Drei Wochen später aber ließ der Direktor mich kommen und sagte: „Reichen Sie Ihre Kündigung ein. Die Chefin des Personalwesens ist die Frau des Parteisekretärs, Sie verstehen.“
  7. Ich fragte: „Und was passiert, wenn ich nicht kündige?“ Er sagte: „Dann entlasse ich Sie – Probezeit nicht bestanden.“ Ich: „Das ist aber nicht wahr.“ Er: „Versuchen Sie es zu beweisen. Wo wohnen Sie, in dem Wohnheim für Ingenieure und Techniker?“ Ich sagte ja. „Dann fliegen Sie morgen auf die Straße, versuchen Sie dann etwas zu beweisen.“ Darauf entgegnete ich: „Wenn Sie in mein Arbeitsbuch keinen Eintrag machen, reiche ich die Kündigung ein. Aber wenn dort steht ‚Probezeit nicht bestanden‘, dann tue ich das nicht.“
  8. Es gab keinen Eintrag und zur beiderseitigen Zufriedenheit schrieb ich die Kündigung und verließ Saratow. Sie können sich vorstellen (wie mir zumute war)… Jetzt, 50 Jahre später, ist es einfach und leicht darüber zu erzählen. Danach trieb ich mich noch eine Weile in Moskau herum, davon erzähle ich Ihnen (aber) nicht. Ich wohnte in Moskau eine Zeitlang bei einem Cousin meiner Mutter.
  9. Danach vermittelte er mich in ein Werk im Ural, in Ufalej. Es liegt zwischen Swerdlowsk und Tscheljabinsk. Als ich da angekommen war, es war bereits Anfang 1953, begriff ich, dass ich dort fehl am Platz bin. Und kaum einen Monat später fuhr ich wieder weg. Als ich zurück in Leningrad war – das Einzige, womit ich damals rechnen konnte, war meine Anmeldung in Leningrad –, verreckte „der Teure und Geliebte“ (Stalin).
  10. Manche weinten und sagten… Auch eine weitentfernte Verwandte von mir, Papas erste Frau. Ich fragte sie: „Warum sind Sie so bekümmert? Er ist doch verreckt.“ Sie sagte: „Man soll nicht für den neuen Zaren beten, es kann noch schlimmer werden.“ Es wurde aber nicht schlimmer, sondern besser.