Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Das war wohl um die Jahreswende 1942/43, als die Stalingrad-Schlacht im Gange war. Wir wussten nichts davon und hatten überhaupt keine Ahnung. Wir hatten kein Radio, gar nichts. Kein Radio und keine Informationen. Allerdings waren da diese Franja und… Gerassim, ein Ukrainer, er war so eine Art Freund: Er kam heimlich ins Ghetto, er riskierte das.
  2. Und er erzählte den Erwachsenen etwas. Ich aber wusste gar nichts. Also, unser Haus (im Ghetto) grenzte ans Hospital. Im Hospital war ein Deutscher, vielleicht war ein Koch. Er hatte Mitleid mit meiner Mutter, sah, dass sie vier Kinder hatte, eines kleiner als das andere. Er reichte uns Suppe oder Zwieback durch den Stacheldraht.
  3. Wir waren ihm natürlich dankbar, der Zwieback schmeckte uns süßer als heute Bonbons. Wir aßen wahllos, Schalen und alles, was wir nur fanden. Ich ging manchmal zum Hospital. Bei uns gab es (auch) einen kleinen Markt, da wurden Zigaretten und andere Kleinigkeiten verkauft und Brötchen mit Cremefüllung. Sie schmeckten gut.
  4. Die Verwundeten gaben mir Geld, einige Mark, und ich kaufte das. Sie kannten mich, „Michael“. Ich schlich fast jeden Tag dahin. Glücklicherweise befand sich neben dem Hospital ein einstöckiges Gebäude aus roten Ziegelsteinen. Beide Gebäude waren fast gleich hoch, dazwischen gab es einen Durchgang. Ich konnte da problemlos durch.
  5. Ich hob den Stacheldraht hoch und schlenderte langsam hinaus und kam auf „russisches Territorium“. Ich ging dort zu den deutschen Zügen, um etwas, egal was, zu besorgen. Das war ja ein Eisenbahnknoten. Ich sage es nochmals: Er war während des Krieges strategisch sehr wichtig, da verliefen die Bahnlinien nach Odessa, Lwow und Kiew. Also, ich ging dahin.
  6. Da waren der Personen- und Güterbahnhof, dazwischen lag das Depot. Ich drehte dort meine Runden, stand an einem deutschen Zug, um die Koffer der Deutschen zu schleppen usw. Es kam auch vor, dass auch rumänische Soldaten… Ich bettelte: „Paine“, das heißt Brot auf Rumänisch. Und ein Rumäne bettelte auch: „Paine…“ Ich glaube, die Deutschen verachteten sie (die Rumänen).
  7. Also, ich ging da (am Bahnhof) lang, in der Nähe des Depots. Und ich sah einige Waggons unter der Böschung liegen, fünf oder sechs. Ein Wagen war mit Sonnenblumenkernen beladen. Sie waren in der Kriegszeit sehr wertvoll. Und ich hatte immer einen geflickten Sack dabei. Ich füllte den Sack mit den Kernen und ging nach Hause. Der Wachposten, er hieß wohl Franz, rief mich: „Michael, komm her!“
  8. Ich näherte mich ihm. Er guckte sich um und machte „Sch-sch!“ zu mir. Dann flüsterte er mir ins Ohr: „Stalingrad – Hitler kaputt – Geh weg.“ Und das war alles. Und er guckte sich wieder um. Warum sagte er mir das? Heute verstehe ich, dass ich das weitererzählen sollte, um unsere Zuversicht zu stärken, dass wir befreit werden. Er war wohl Antifaschist, war aber gezwungen zu kämpfen – genauso wie viele von unseren Leuten. Wollten sie das etwa? Auch mein Vater ist gefallen.
  9. Diese Episode ist mir für immer im Gedächtnis geblieben. Unter den Deutschen gab es Leute, die innerlich Gegner des Faschismus waren. Vielleicht waren sie nur wenige, diese Episode gab es aber wirklich: Er sagte zu mir, „Schweig, sch-sch – Stalingrad – Hitler (kaputt).“ Es war in einem schneereichen Winter, wohl zur Jahreswende 1942/43, genau weiß ich es nicht. Jedenfalls lag viel Schnee und es war kalt.