Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Meine Familie gehörte in der ersten Generation zur Intelligenzija. Manche hatten das Glück, in eine bekannte und reiche Familie in Moskau oder St. Petersburg hineingeboren zu werden. Mein Vater wurde im Schtetl Tichinitschi im Gouvernement Mogiljow geboren. Es ist nicht einmal auf der Karte zu sehen, so winzig war der Ort. Sein Vater war Bürgerschaftsältester, ein Autodidakt, er konnte auch Russisch.
  2. Er studierte selbständig die Gesetze und wurde später Anwalt. Natürlich war er religiös und hatte einen eigenen Platz in der Synagoge. Er ging mit seinem ältesten Sohn hin. Die Familie war kinderreich wie alle jüdischen Familien im „Ansiedlungsrayon“. Meine Großmutter bekam 13 Kinder, erwachsen wurden nur vier: Krankheiten, fehlende medizinische Versorgung, Tragödien, Weinkrämpfe. Aber was konnte man tun?
  3. Mein Vater war das älteste Kind, mit ihm waren alle Hoffnungen verbunden. Er sollte den „Ansiedlungsrayon“ verlassen. Mein Großvater war aber kein reicher Handwerker oder Kaufmann, er durfte das nicht. Dafür war ein Hochschulabschluss notwendig. Der Junge stammte aber aus einer armen Familie in einem Schtetl. Für ihn gab es nur einen Weg – die Apotheke.
  4. Er nahm diesen Weg nicht gleich. Mein Vater ging (zunächst) in den Cheder und wollte Rabbiner werden. Er wohnte in Bobrujsk bei seinem Onkel. Zusammen mit seinem Cousin bereitete er sich auf das Studium am Seminar in Wilna vor. Der Großvater entschied dann anders. Nein, er solle die Lokomotive werden, die die ganze Familie aus dem „Ansiedlungsrayon“ herauszieht: „Die Apotheke!“
  5. Er war dann Apothekerlehrling, machte eine Ausbildung als Apothekergehilfe. Ein Apothekergehilfe durfte schon in den großen Städten des „Ansiedlungsrayons“ wohnen, aber auch in manchen Gebieten außerhalb, z.B. bei Kiew. Er trat sehr früh der Partei „Arbeiter Zions“ bei. In manchen Orten war sie sogar einflussreicher als der „Bund“, weil sie einen jüdischen Staat in Palästina und eine jüdische Nation anstrebte. Das war eine sozialistische (Partei). (Mein Vater) wurde bereits 1903 Mitglied dieser Partei.
  6. Er wird später das Abitur extern machen und schafft es, sich an der Uni in Charkow zu immatrikulieren, sogar unter der Drei-Prozent-Quote. Er studierte Jura. Um leben zu können, musste er Stunden geben. Er war sehr begabt und durfte nach Rogatschow im „Ansiedlungsrayon“ fahren, um dort Stunden zu geben. Rogatschow erwähne ich nicht zufällig, denn in dieser Stadt lernten sich meine Eltern kennen.