Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Es verging eine Weile, bis die Verhaftungen in Leningrad begannen. Seine Genossen an der LOKA (Kommunistischen Akademie) und der Universität wurden verhaftet. Es fand eine sehr große Versammlung statt, wo alle Steine auf die Leute warfen, die aus der Partei ausgeschlossen worden waren. Parteiausschluss bedeutete aber automatisch Verhaftung.
  2. Und Papa war der einzige unter den Rednern, der sagte, dass alle sich gleichermaßen geirrt und Fehler zugelassen haben. Und er schloss so: „Ich fühle mich politisch bankrott.“
  3. Das war im Sommer. Ich wurde ins Erholungslager geschickt, damit ich nichts mitbekomme. Und sie beschäftigten sich mit… Ich wusste gar nichts. Wissen Sie, vor mir wurde alles verheimlicht. Und ich dachte lange nach, warum verheimlicht? Vielleicht wegen der Belastung, die nicht zu verkraften ist – ich war ja kaum 16.
  4. Oder… Also, ich weiß es nicht. Diese Frage beschäftigt mich immer wieder. Und das wird sich dann auch in meinem Verhältnis zur Mutter fortsetzen. Sie wird aus dem Lager zurückkehren und sehr oft schweigen, nur weil… Wir werden sehr lange verschiedene Sprachen sprechen.
  5. Nun zur Sache: Papa wird nach Moskau fahren, wieder zu Wyschinskij und zu ihm durchkommen. Und er kehrt zurück gerade am Vorabend… Also, ich wurde 16, und der Geburtstag sollte gefeiert werden wie immer bei uns: Man machte eine Wandzeitung und feierte…
  6. Mein Vater wurde (dann) in die Stadtparteizentrale zitiert. Er bekam angeboten, die Stelle des verhafteten Institutsdirektors zu übernehmen. Er war glücklich, dass er (selbst) nicht verhaftet wird. Zu mir kamen Gäste, wir tanzten und amüsierten uns. Er hatte schon lange nicht mehr so fröhlich gelacht. Und um ein Uhr nachts kamen sie (vom NKWD).
  7. Der Haftbefehl wurde von dem Mann unterschrieben, der ihm in der Parteizentrale die neue Stelle angeboten hatte. Sie machten so etwas öfters, einen in die Irre führen, damit man ruhig ins Gefängnis geht.
  8. Dann kam die Verhaftung. Ich werde davon nicht erzählen, ich habe darüber geschrieben. Ich kann es nicht, und glaube auch, jetzt ist es auch nicht nötig davon zu erzählen.
  9. Ich sage nur eines: Im Haftbefehl stand bereits geschrieben, dass die Schuld bewiesen ist. Und die (NKWD-)Leute behandelten (die Verhafteten) wie Feinde. Und sie waren sehr ungebildete Leute, zu uns kam auch so einer. Er sah z.B. Bücher, auf denen (die Widmung) stand „Vom Autor“ – „Wer ist denn Autor? Wessen Nachname ist das?“ Plechanow war für ihn ein Menschewist und das heißt ein Feind.
  10. Und dass ein (Plechanow)-Denkmal in Leningrad steht, war ihm nicht wichtig. Also, er benahm sich scheußlich und das die ganze Nacht lang, bis zum Morgen; es gab ja viele Papiere (meines Vaters). Sie steckten alle Manuskripte in einen Sack, das Ganze wurde dann vernichtet. Später habe ich im „großen Haus“ eine Aufschrift gesehen – da gab es ein spezielles „Krematorium“ für Manuskripte. Sie gaben sich keine Mühe, die Manuskripte durchzusehen und vernichteten sie dann alle. Es dauerte bis zum Morgen.
  11. Da gab es auch eine Episode, über die ich (in meinem Buch erzähle). Dieser (NKWD-Mann) Beigel fragte mich, ob ich ein Deutschlehrbuch für die neunte Klasse habe. Ich sagte ja. Es zeigte sich, darin war ein Artikel von Radek. Radek wurde in den Zeitungen noch nicht zum Feind erklärt, war aber schon verhaftet. Sie wussten es schon und wir z.B. noch nicht. Er ließ (das Lehrbuch) bringen und riss den Artikel heraus. Und er sagte: „Bedanke dich, dass ich dich nicht mit dem Vater zusammen mitnehme.“