Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Ich versuchte ein Studium aufzunehmen. Zunächst wollte ich da studieren, wo mein Bruder arbeitete. Ich wurde dann zwar Lehrerin für Literatur, damals war ich (aber) eigentlich die beste Mathematikerin an der Schule. Ich gewann den Mathe-Stadtwettbewerb. Ich wollte da sein, wo mein Bruder war. Mein Bruder arbeitete sich schon ganz nach oben, ich war noch unten. Er war die ganze Zeit mein Vorbild.
  2. Meine Unterlagen wurden da (an seinem Institut) aber nicht angenommen, denn ich schrieb, ich sei Tochter eines „Volksfeindes“. Ein Lebenslauf musste unbedingt eingereicht werden. Ich wollte dann Mathe an der Uni studieren – Nein. Ich versuchte, an die technischen Hochschulen zu kommen – Nein. Dann beschloss ich, an der Pädagogischen Hochschule zu studieren. Noch tiefer ging es nicht, da war das Stipendium am geringsten…
  3. Mein Bruder sagte: „Warum solltest du die ganze Zeit den Satz des Pythagoras wiederholen? So wirst du wahnsinnig. Gehe doch an die Literaturfakultät!“ Ich kam zum stellvertretenden Direktor und fragte, ob sie Kinder mit einer „beschädigten“ Biografie einschreiben würden. Er fragte: „Was genau?“ Ich sagte: „Meine Eltern sind verhaftet.“ – „Machen Sie die Prüfungen, wir nehmen die Unterlagen an.“
  4. Aber erst 1990 erfuhr ich die Wahrheit. Ich brauchte da eine Bescheinigung, dass ich zwei Jahre (studiert habe)… – dann kam der Krieg. Also zwei Jahre Studium, das war für die Rente nötig. Die Bescheinigung kam und kam nicht. Ich machte mich zusammen mit einem Genossen von „Memorial“ auf den Weg dahin: „Nun, was soll das?“
  5. Die Archivleiterin sagte: „Erst als ich ihre Biografie gelesen hatte, habe ich verstanden, was Sache ist. Bedanken Sie sich bei Ihren Lehrern.“ Ich fragte: „Warum das denn?“ Sie sagte, mein Name fehle auf der Liste der zum Studium Zugelassenen. Ich sagte: „Wie? … Ich habe doch ein Stipendium bezogen!“ – „Richtig.“ – „Und später, als die Studiengebühr eingeführt wurde, war ich davon befreit.“ – „Richtig.“
  6. Damals lebte eine von unseren Lehrerinnen noch und sie offenbarte mir: Als bekannt wurde, dass so ein Mädchen (wie ich) zum Studium nicht zugelassen wird, haben vier Hochschullehrer (geholfen). Zwei von ihnen waren Professoren: Boris Borowskij, unser stellvertretender Dekan und Boris Larin, Inhaber des Lehrstuhls für Russisch. Und die Dozentin Dina Matulskaja und der Dozent Leonid Troizkij. Sie nahmen sich meiner an, zahlten mir das Stipendium und die Studiengebühr für mich, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren.