Ein Projekt der Synagogen-Gemeinde Köln und der Landesverbände
der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein und Westfalen-Lippe
durchgeführt vom NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln
Lebensgeschichten jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion
in Nordrhein-Westfalen

Истории жизни еврейских иммигрантов, приехавших из бывшего Советского Союза и поселившихся
в федеральной земле Северный Рейн-Вестфалия
  1. Es gab eine lange Periode, nach der Revolution und bis zum Krieg… Da gab es überhaupt keinen Staatsantisemitismus. Den alltäglichen Antisemitismus gab es, aber nicht überall. Dann kam der Staatsantisemitismus. Während des Krieges verlangte Stalin, Decknamen einzuführen.
  2. Nein, früher, schon nach dem Hitler-Stalin-Pakt. Denn die Deutschen sagten: „Bei euch gibt es überall zu viele Juden“, und Stalin verlangte, Decknamen einzuführen. Die Schriftsteller, Schauspieler und Diplomaten nahmen gleich Decknamen an. Sie sollten später „entlarvt“ werden, in der Zeit, als der Staat begann, auf die Juden einzuhauen. Danach wurden sie, schlicht gesagt, aus den Behörden entfernt.
  3. Bei uns gab es viele Mischehen, weil man so etwas (erst) nicht spürte. Noch mehr: Jüdische Familien kultivierten immer die Bildung. Sehr viele Politiker, Wissenschaftler und Kulturschaffende heirateten Jüdinnen, weil es mit ihnen interessanter war. Im Verzeichnis der Lagerinsassinnen vom ALShIR gibt es äußerst viele jüdische Namen. Obwohl bei weitem nicht alle („Volksfeinde“) jüdische Frauen hatten.
  4. Die Lage in Leningrad war natürlich sehr schwierig. Aber ich weiß noch ganz genau, wie die „Ärzteverschwörung“-Affäre „eingestellt“ wurde… Morgens früh wurden die Zeitungen auf der Straße ausgehängt, wie immer drängten sich da viele Leute. Nicht alle konnten ja Zeitungen abonnieren. Ich kam in die Schule.
  5. Da arbeitete eine ehemalige Schülerin des Smolnyj-Instituts, sie besuchte später die Bestuschew-Kurse und entflammte für die Revolution. Sie war eine hochgewachsene hervorragende alte Frau, Lidija Schetinskaja. Sie wartete schon auf mich: „Ich gratuliere Ihnen, Ida Iljinitschna!“ Ich hatte eigentlich mit den Ärzten nichts gemein, – und doch: „Ich gratuliere Ihnen!“ Ich habe das immer noch in Erinnerung.
  6. Man kann nicht behaupten, dass damit alles vorbei gewesen wäre. Denn der Staatsantisemitismus verschwand nicht, er wurde nur etwas kaschiert. Im Volk hatte er sich tief verbreitet und ist dort gut aufgehoben. Das Schicksal meiner Schüler schon in der anderen, etwas freieren Zeit, zeugt ebenfalls davon.